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versucht; nun, wie tapfer auch immer, sie wissen, dass die Kugel in der Stirn einschlagen wird – wenn sie Glück haben –, so dass sie uns unverwandt anblicken und dabei manchmal gar lächeln mögen (auch wenn diesem Lächeln drei Zähne fehlen), der Kopf weicht doch zurück, unbewusst, und versucht auf seine primitive Weise, einen Zentimeter mehr zwischen sich und das Schicksal zu bringen.
Mit seinen guten Kameraden marschierte er durch die Straßen Krakaus, alle sangen sie im Takt »Erika«, begleitet vom angenehmen Klackern ihrer beschlagenen Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, und da war er der Einzige, der sich an die Gruben voller toter Juden erinnerte, stinkend und braungelb wie die Erde, die nach dem Einschlag einer Mörsergranate in Stalingrad auf den Schnee herabregnet. Siegfried, dem Sohn des bankrotten Kneipenwirts, waren die Zigaretten ausgegangen (er hatte zwei Wochen »verschärften Arrest« hinter sich, wegen Rauchens im Fuhrpark); Kurt Gerstein gab ihm eine ganze Packung. Albrecht, der ehemalige Bankkassierer, wollte seiner Mutter ein paar Goldbarren schicken, die das Glück ihm in die Hände gespielt hatte; Kurt Gerstein rief Hauptmann Wirth an und ließ es arrangieren. Karl und der hübsche Heini, die einander '32 im Gefängnis kennen gelernt hatten, schmollten, weil sie nun irgendwelche Unterlagen ganz bis ins Zentralbüro zur Regelung der Judenfrage in Böhmen und Mähren bringen mussten, anstatt sich weiter mit Polenmädchen zu amüsieren; der liebe blonde Kurt Gerstein erbot sich, ihnen die Reise abzunehmen.
Er versuchte, die Zeitung zu lesen, auf deren erster Seite Ribbentrop
das Kinn vorschob wie die Statuen im renovierten Auswärtigen Amt; das bedeutete, dass es rein gar nichts zu berichten gab, jedenfalls nichts Gutes. Er wollte den Artikel über Ribbentrop zu Ende lesen, aber sie ließen ihn nicht. Sie waren seine Kinder. Heini, der neuerdings Begeisterung für unsere Nationalliteratur entwickelt hatte, lag ihm ständig mit Tristan in den Ohren, den der Junge, um Zeit zu sparen, in einer modernen deutschen Fassung las. Er war bei den Versen angelangt, in denen Tristan der Liebende Tristan dem Zwerg zu Hilfe eilt, dem eine Geliebte auf die Burg eines Widersachers verschleppt worden ist. Sie erschlagen den bösen Ritter nebst seinen sechs Brüdern; so weit ist alles klar, aber Tristan der Zwerg kommt dabei um, und Tristan der Liebende wird von einem vergifteten Speer in den Lenden verwundet. Nur Isolde kann Tristan retten, aber sie trifft nicht rechtzeitig ein. Der hübsche Heini wollte wissen, was der vergiftete Speer zu bedeuten hatte. Warum musste er Tristan in die Lenden fahren? Was hatte das zu sagen? Vielleicht, fragte der hübsche Heini sich in unschuldigem Ton, könne Kurt Gerstein ihnen etwas über den an den Lenden verwundeten Ritter erzählen. – Stattdessen brachte Kurt Gerstein sie ins »Drei Reiter ritten zum Stadttor hinaus«, worauf sie beschlossen, dass Kurt Gerstein eigentlich sehr nett sei; sie betranken sich und schlossen ihn in die Arme, wie unsere treuherzigen Soldaten es tun. Sie zogen die Pistolen, ließen sie auf die Kneipentische scheppern und lachten über die allgemeine Furcht. Dann schworen sie einander Blutsbrüderschaft, auch dem lieben blonden Kurt Gerstein: Alle stachen sich mit ihren-Dolchen in die Fingerspitzen und vermischten ihr Blut mit dem seinen!
In unseren alten Ritterromanen kämpft Bruder gegen Bruder, weil das Visier der Helme die Identität der Kämpfenden verbirgt. Aber diese jungen Männer trugen alle dieselbe Rüstung wie er; ihre Ehre hieß Treue. Er tat, als wäre er ihr Bruder, und sie sahen nie sein Gesicht. Solange es dunkel war, konnte er ihre Gesichter nicht sehen; er betete, dass Hauptmann Wirth das Licht nicht anschaltete. Und er wünschte, er könnte Karten spielen, denn das hätte sie glücklich gemacht. Sie mordeten unschuldig, weil man ihnen befohlen hatte zu morden und weil sie dumm waren. Wie könnte da selbst Jesus Christus Schuld an ihren blutigen Händen finden? Sie luden ihn ein, Bier mit ihnen zu trinken und gleich nach dem Krieg mit ihnen ins Wintergarten-Varieté zu gehen. Sie fragten ihn, welche Filmschauspielerin ihm lieber war, Ingrid Lutz
oder die siebzehnjährige Lisca Malbran, und er lächelte und sagte, da sei eine gewisse Bertha, die er nie vergessen könne; als sie fragten, wer sie sei, sang er wieder »Erika«. Er stimmte mit ihnen »Heil dir im Siegerkranz« an. Sie glaubten, er habe seine drei Zähne
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