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im Straßenkampf verloren; sie wussten, dass er bei den Braunhemden gewesen war; genau wie der berühmte Barrikaden-Otto. Und dafür liebten sie ihn nur umso mehr.
Jetzt, über einen braungebrannten, kahlrasierten Polenschädel hinweg, sah er, wie ein-Mann den Arm um ein blondes Ukrainermädel legte, auf dem Weg durch die verwinkelte Gasse, bis sie von der Markise eines Lokals verschluckt wurden. Er lachte, seine Augenlider zuckten und er murmelte: !
Schließlich wurde er sie los. (Wie Friedel immer sagte: Dein Fanatismus stürzt dich noch ins Unglück, Kurt.) Es war ihm wirklich nicht recht, denn nun rief die Pflicht. Sie hielten ihn für einen frömmelnden Idioten; er wusste einfach nicht, wie man sich amüsiert.
In der Ortschaft Oświęcim traf er Hauptmann Wirth, der sein Bier aus der Suppenterrine einer toten Familie trank, einer mit silbernem Fischgrätmuster eingefassten Muschelschale; und Hauptmann Wirth erzählte ihm, »ganz unter uns«, wie die neuen Verbrennungsöfen, mit echter deutscher Gründlichkeit gebaut von Topf und Söhne, ihre geschätzte Kapazität von viertausendsiebenhundertundsechsundfünfzig Leichen (die Zahl hatte Hauptmann Wirth auswendig gelernt) um fast das Doppelte übertrafen, worauf Gerstein (der schon am Rechnen war: achthundert pro Tag, das macht neunundzwanzigtausendzweihundert pro Jahr, die gelegentlichen offenen Scheiterhaufen mit zweitausend pro Tag ausgenommen, und das macht …) lachte und schnaubte: Geschieht den Juden recht!
30 – dann zuckte sein Augenlid, was Hauptmann Wirth kein bisschen misstrauisch machte, denn unsere Jägersleut entwickeln immer Macken, weil ihre heldenhafte Arbeit so strapaziös ist. – Und behalten Sie das schön für sich!, kicherte Hauptmann Wirth. Schließlich verplomben selbst die Russen ihre Funkgeräte vor einer geheimen Offensive …
Und dann schalten wir das Licht an …
Wie war das? Also, haben Sie Hauptsturmführer Professor August Hirt schon kennen gelernt? Die meisten dieser Eierköpfe sind mir scheißegal, aber Professor Hirt ist ganz von der bodenständigen, völkischen Sorte. Sie müssen sich bloß ducken, wenn er seine Fachsprache
auf sie abfeuert. Sie sollten ihn treffen, Gerstein. Er baut gerade eine jüdische Skelettsammlung auf …
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Nach dem Zusammenbruch der Festung Stalingrad wurde die Stimmung noch grimmiger, der Übereifer nahm zu, so wie sich im Verlauf gewisser Krankheiten nach einer Blutung die Zahl der Thrombozyten erhöht. Es galt nun, die brutalstmöglichen Maßnahmen zu ergreifen. Die, die uns am besten kannten, unsere teuflischen Feinde an der Ostfront, beschrieben die Stimmung der Deutschen als schwankend zwischen Widerstand bis zum Letzten, der an Verzweiflung grenzt, und Fatalismus, der in kopfloser Feigheit endet.
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So wie ich die Sache sehe, sagte-Obersturmführer Kurt Gerstein, wäre im Umgang mit den Juden jede Nachsicht so fatal wie ein Zögern bei der Beseitigung eines russischen Brückenkopfes.
Wohl gesprochen, junger Mann!
Aber so eloquent dieser Gerstein auch sein mochte, manche von uns gingen die Sache inzwischen anders an. Die Juden ausrotten? Unbedingt! Aber erst einmal quetschen wir ein bisschen Bargeld aus ihnen heraus. Bald würde Auschwitz Profit abwerfen.
Um diese Zeit besuchte der holländische Ingenieur H. J. Ubbink Gerstein in seiner Berliner Wohnung und trug die Geschichte von Belzec nach London. Niemand wollte sie glauben. Ubbink glaubte inzwischen selbst nicht mehr daran und nannte Gerstein fortan den »heiligen Narren«. So ging ein weiterer deutscher Sommer ungehindert ins Land, und der heilige Narr, vom »Schlauen Hans« Günther auf eine Inspektionsreise nach Chełmno geschickt, entkam nur ganz knapp der Zwangsabordnung in die Reihe der in großen Abständen aufgestellten-Männer, die Juden abknallten, während das Sonnenlicht ihre pilzförmigen Helme segnete. Ihrer harten Arbeit war es zu verdanken, dass es nie wieder ein Polen geben würde. – Diese Massenabschlachtungen sind gegen deutschen Brauch, sagte Dr. Pfannenstiel, der dort seine eigenen Forschungen betrieb. Dem Himmel sei Dank für die Gaskammern! – Ein Satz, bei dem die Schützen die Augen zusammenkniffen. Die Gaskammern waren an jenem Tag außer Betrieb, und sie mussten schuften. Einer namens Sorli hatte Probleme mit einer Nagant, die
danebenschoss; mit seiner Lederpeitsche wäre er schneller gewesen! Dr. Pfannenstiel brachte ihn auf die Palme. Auch Kurt Gersteins Nase gefiel ihm nicht, obwohl
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