Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Europe Central

Europe Central

Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
Vom Netzwerk:
versprengte
Fußgänger die Straße, dann nichts als Leere aus Stein und Beton, flächig und endlos.
    Und jetzt werden wir die Straßenbahn nehmen, Frau Kollwitz. Meinen Sie nicht auch, Herr Doktor? Ihre Frau sieht erledigt aus.
    Sie hielt die Hände gefaltet, und der Straßenbahnfahrer beobachtete sie durch seinen runden Spiegel.
    Die Portiersfrau und ihr kleiner Junge schliefen auf einer Matratze unter der Treppe, das Kind hatte die dicke Backe an den müden Mund der Mutter gedrückt, ihre abgearbeitete Hand lag an seinem Hals. Karl, dem die Gläser seiner Bügelbrille einen falschen enthusiastischen Glanz aufsetzten, richtete einen wachen Blick auf die Schlafenden, dann seufzte er.
    Am Morgen darauf, als der Genosse Alexandrow ihrem Mann den Roten Platz zeigte, der ihn langweilte, und die Basilius-Kathedrale, deren Kuppeln mit ihren Mustern aus breiten Streifen, Tannenzapfen-Borten, Eiskrem-Wirbeln und Meereswellen er, wie er später berichtete, märchenhaft fand, blieb sie im Hotel; sie war alt; sie wollte nur schlafen. Karl, der ihr so ergeben war und der ihr immerzu sagte, wie viel Glück sie ihm gebracht habe – wie sehr sie ihn liebte; wie sehr sie ihn hasste! Die Ehe ist eine Arbeit, hatte sie einst ihrer Freundin Lene Bloch gesagt.
38 Er hatte nie verstanden, warum sie Zeit für sich brauchte. Es verletzte ihn. Es war nicht so, dass sie ihn nicht liebte! Sie hatte sich angewöhnt, ihm nicht zu zeigen, wie glücklich es sie machte, sich allein in Peters Zimmer zurückzuziehen. Selbst Russland setzte ihr heute zu; sie musste wirklich sehr alt sein.
    Dann gab es einen Aufmarsch auf dem Roten Platz, immer mit Lenins Mausoleum im Hintergrund, also ging sie hin: eine Militärparade, dann bewaffnete Arbeiter, gefolgt von Demonstrationen.
39 Auf seine Weise war dies genauso entzückend wie ein Gottesdienst in der Marienkirche. Karl, der mitfühlende Sozialdemokrat, jubelte mit den anderen mit, auch wenn er kein Wort verstand. An Ort und Stelle fertigte sie die Bleistiftzeichung »Zuhörende« an, die im Jahr darauf lithografiert werden würde, der Titel ins Russische übersetzt – Sluschajuschtschie  – dabei die Augen heller hervorgehoben, immer noch unschuldig, und die Kontraste verstärkt.
40 (Otto Nagel: Aus Moskau hatte Käthe Kollwitz ein wunderschönes Blatt »Zuhörende« mitgebracht, das sie später auf Stein zeichnete.)
41 Damals war »Zuhörende« einfach eine Bleistiftzeich
nung dreier ergriffener junger Köpfe, den Blick aufwärts gerichtet, der hinterste mit offenstehendem Mund wie das tote Kind – aber da ist Leben in den Augen dieses jungen Mannes, Staunen und Erleuchtung, denn er hört die Worte des Genossen Stalin! Dann kommt ein Kopf mit geschlossenen Lippen; sein Träger hat sich in die Rede verloren; dann im Vordergrund, auf seinem Schoß, an seinen rechten Arm gekuschelt und den Kopf an seine Schulter gelehnt, das Kind, weißgesichtig, großäugig, der Mund offen, ganz Neugier und Überraschung, aber in derselben Pose wie so viele der toten Kinder der Kollwitz, den Kopf leblos im Nacken. Aber was sage ich da? Ganz und gar nicht leblos! Wenn sie früher mit den Kindern in irgendeinem Café unter Bäumen Kaffee oder Kakao tranken, packten die Kleinen manchmal die Stuhllehnen und blickten über sie hinweg in die Welt, gerade so! Und Peter hatte gesagt …
    Ich träume dauernd von verzierten russischen Kuchen, sagte ihr Mann.
    12
    Diese Geschichte ist, wie das ganze Buch, ein Derivat. In seinem unübertrefflichen Werk Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch überliefert der serbische Autor Danilo Kiš eine Legende: Édouard Herriot, Ranghöchster der sozialistischen Radikalen Partei in Frankreich, charismatischer Redner, effektiver Politiker (zum Teil ist es ihm zu verdanken, dass Frankreich die Sowjetregierung anerkannt hat), kommt auf Besuch nach Kiew. Monsieur Herriot, Genosse Herriot, wie ich fast sagen darf, hat eine Schwäche: Was die Verfolgung von Priestern angeht, ist er zimperlich. Unglücklicherweise soll er in vier Stunden eintreffen, und wir haben die Sophienkathedrale schon lange in eine Brauerei verwandelt! Was tun? Immer mit der Ruhe! Wir nehmen das anti-religiöse Spruchband draußen ab. Hundertzwanzig Häftlinge aus dem nächsten regionalen Lager schafften es innerhalb von knapp vier Stunden, die Kirche unter meiner Aufsicht neu zu restaurieren.
42 Und Herriot wird hereingelegt.
    Und Käthe Kollwitz? Wollte auch sie sich hereinlegen lassen? Sehnte sie sich nicht zumindest

Weitere Kostenlose Bücher