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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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erklärte, es sei schon eingepackt. Er lächelte verständnisvoll.
    Sie fragte ihn, was er mit seinem Leben anfangen wolle, und er sagte, er wolle den Fortschritt der kommunistischen Revolution dokumentieren, hier und auf der ganzen Welt. Er überlege sich, die Staatliche Fotografieschule zu besuchen, wenn er jemanden finden könne, der ihm dabei half. Er wolle zum Film.
    Käthe nickte und lehnte sich an Karls Schulter. Sie wollte sich ein
fach nur in den Zug setzen und ausruhen. Nie wieder eine Frage beantworten müssen, höchstens ihren Enkelkindern, wie wäre das schön! Aber sie konnte den jungen Mann nicht einfach verprellen. Wenn Karl nur nicht merkte, wie müde sie war! Wenn er versuchte, sie loszueisen, würde er dem jungen Mann bestimmt weh tun.
    Entschuldigen Sie, mein Lieber, ob Sie mir noch einmal sagen könnten, wie Sie heißen? Wir älteren Menschen werden leider ein wenig dumm.
    Gewiss, Frau Kollwitz! Ich heiße Karmen, Roman Lasarewitsch Karmen. Vielleicht mache ich mir eines Tages einen Namen.
47
    Und wo, haben Sie gesagt, kommen Sie her?
    Aus Odessa. Diese Kamera gehört eigentlich meinem verstorbenen Vater. Das war alles, was er mir hinterlassen konnte. Die Weiße Garde hat ihn gefoltert, weil er ein paar Artikel für die kommunistische Presse geschrieben hatte. Später wurde er freigelassen, aber er hat sich nie wieder davon erholt. Er ist sehr jung gestorben.
    Sie armes armes Kind, sagte Käthe und schüttelte den Kopf. Sie hoffte, dass ihr Mann ihn nicht gehört hatte. Solche Fälle nahmen Karl, der Vater und Mutter früh verloren hatte, immer sehr mit.
    Keine ungewöhnliche Geschichte, leider. Ihr Gesichtsausdruck ist perfekt; könnten Sie einen Augenblick stillhalten?
    Und der hübsche junge Karmen mit dem weichen Gesicht unter der Kordmütze blickte durch die Kamera, deren Balgen teilweise ausgezogen war, gehalten vom stählernen X darüber; sie konnte sehen, dass die Objektivplatte der Frontstandarte gepanzert war, wie die ganze Kamera.
    (Soll ich ihren perfekten Gesichtsausdruck beschreiben? Vor allem vermittelte sie einen Eindruck trauriger Beharrlichkeit; nicht nur, dass sie kein anderes Modell mehr benötigte als sich selbst, nein, sie hatte sich in eine ihrer eigenen Skulpturen verwandelt. Ihre Augen glichen beinahe denen Schostakowitschs: Der Kummer schien geradezu aus ihnen herauszuplatzen, wie Leichen, die in die Luft fliegen, wenn eine Granate in ein Massengrab einschlägt.)
    Er wirkte kein bisschen verbittert. Er hatte etwas von Peter an sich, von dieser Mobilmachung des Idealismus, die wir in Deutschland damals in der ersten Woche alle teilten (auch wenn der alte Reschke im Café Monopol wahrscheinlich recht hatte, als er sagte: Gott sei Dank,
dass mobil gemacht ist, die Spannung war nicht mehr zu ertragen)
48  – als Peter sich freiwillig meldete, hatte sie ihn noch für ein Kind gehalten; er war achtzehneinhalb; aber seine Begeisterung hatte sie fast zu Tränen gerührt; genau wie Karl, der sagte: Diese herrliche Jugend – wir müssen arbeiten, dass wir ihrer wert werden.
49  – Das war natürlich am Anfang, als selbst sie an den Kaiser geglaubt hatte und Peter noch lebte.
    Wie alt waren Sie, als Ihr Vater starb?
    Vierzehn, antwortete er und lächelte rasch. Das war, als die Polen Kiew einnahmen …
    Er drückte den Auslöser; das Magnesiumpulver blitzte auf.
    Danke, Frau Kollwitz, ich schicke Ihnen einen Abzug. Na, diese Kamera war ein guter Anfang, aber inzwischen langweilt mich die Fotografie. Ich glaube, sie kann die Dynamik unseres neuen Zeitalters nicht einfangen. Haben Sie die Rodtschenko-Ausstellung gesehen?
    Ja, das habe ich, sagte sie höflich. Der Genosse Alexandrow hatte einen Besuch für sie arrangiert. Sie hatte sie schrecklich gefunden.
    Nun, all die seltsamen Winkel, diese Verzerrungen, das finde ich großartig! Und nützlich macht er sich auch; er gestaltet Plakatwände, die aufrüttelnd und erzieherisch sind. Aber ich will noch weiter gehen! Ich möchte alles in Bewegung zeigen! Aber gleichzeitig muss man der Wirklichkeit treu bleiben, so wie Sie. Ich werde keine eskapistischen Filme drehen, sondern Dokumentarfilme.
    Jetzt erinnerte er sie so sehr an Peter, dass sie es kaum aushalten konnte; besonders an Peter im letzten Monat seines Lebens, wie er lächelte in seiner dunklen Uniform mit der Reihe großer glänzender Knöpfe; so oft er konnte, trug er die neue Mütze und ließ den Blick in eine Ferne schweifen, die er für die Zukunft hielt
50 .
    Das

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