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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Massen, weil sie mich nicht zum Mitleid reizten, selbst wenn sie krepierten. – Ich spüre Ihre Enttäuschung und Ihre Missbilligung (oder ist das Mitleid in Ihrem Blick?). Vielleicht kann ich es nicht erklären. Damals habe ich mich einfach entschieden: Weg mit den persönlichen Gefühlen! Ich wollte nur noch als Teil eines Kollektivs leben.
35
    Sie musste ein wenig lachen. Inzwischen mochte sie ihn.
    Und wollen Sie das immer noch?
    Natürlich.
    Der junge Mann, der Genosse Alexandrow hieß, erbot sich, sie und ihren Gatten zu einem Schostakowitsch-Konzert zu begleiten.
36 Dieser Schostakowitsch war offenbar gerade der Liebling der Sowjetunion. Bald werde man seine 2. Sinfonie in Leningrad uraufführen, sagte der junge Mann. Karl freute sich, denn nun bekam er endlich seinen Spaziergang. All die Jahre hatte er mit ihr gelebt, und der Weber-Zyklus war nicht gerade etwas Neues für ihn. Selbst sie hatte so viele Jahre mit ihm verbracht, dass für sie nicht mehr viel Lebendiges an ihm war; als sie ihn heute am Abend wiedergesehen hatte, dachte sie höchstens, dass es ein paar Details gab, die man hätte anders lösen sollen; der Rest war eben so, wie er war. Was den Spaziergang anging, wäre Käthe lieber nach Hause gegangen. – Ich finde, ein Konzert wäre großartig, sagte sie und strich ihrem Gatten über die grauen Haare.
    Sieh nur, Käthe!, rief er überrascht. In diesem Laden gibt es nichts als Butter! Und alle stehen danach an!
    Genau, sagte der junge Mann und warf ihm einen scharfen Blick zu. Die Romanows haben uns einen Saustall hinterlassen.
    Nun schwieg Karl. Was Käthe anging, sie hatte den Laden, von dem er sprach, nicht einmal gesehen. Der Gehweg war so eisglatt und die Nacht so dunkel, dass sie nur auf ihre Schritte achtgeben konnte. Dabei gab es recht viel zu sehen. Das Museum des Atheismus hatte geöffnet. Das konische Spitzenwerk des Schuchow-Radioturms war noch nicht ganz fertig; die Fenster in den Erkern des E-Werks von Scholtowski würden erst in zwei Jahren erstrahlen; aber man konnte nicht leugnen, dass wir Berlin voraus waren. (Rotes Kiel, Rotes Leipzig, Rotes Frank
furt, Rotes Stuttgart, alle umgekippt wie das Standbild Alexanders II .!) In einem Hauseingang stand eine fröstelnde alte Dame und versuchte, kleine Figurinen aus Zuckerteig zu verkaufen. Käthe hätte ihr eine abgenommen, aus reinem Mitleid, aber der Genosse Alexandrow, der sie mehr und mehr an ihren Sohn Hans erinnerte, sagte, es sei keine Zeit. Sie blickte Karl nicht an.
    Die Komposition, deren Aufführung sie beiwohnten, das Scherzo in Es-Dur, hatte den Beigeschmack von etwas Modernem, aber nicht ganz Neuen. Ihrem Gatten gefiel sie überhaupt nicht, das sah sie an der Unverbindlichkeit seines Lächelns. Was musste er ihretwegen alles ertragen! Was sie anging, sie hörte lieber Schnabel, dessen Musik sie ruhevoll und weihevoll nannte. Immer wenn sie auf dem Grammophon Beethoven hörte, tat sich ihr der Himmel auf.
37 Dieses Scherzo war wie ein kurzer Blick in die Hölle. Aus seinem grauen, leblosen Grund erhob sich der Gestank des Grams. Als Schostakowitschs Noten klagend erklangen, schien es in dem großen Saal so kalt zu werden, dass sie nicht überrascht gewesen wäre, Eiszapfen von der Decke hängen zu sehen. Und doch war etwas an der Musik, das ihr nachging, nicht nur in den Klangfarben, die unter dem Grau an ein schauerliches Nordlicht erinnerten; vielmehr hörte sie eine verzweifelte, verschlüsselte Botschaft, die sie verwirrte. Sie sprach zum Genossen Alexandrow davon, der gewandt erwiderte: Nun, wenn er unverständlich ist, dann ist er gescheitert. – Das war ihr ein wenig zu streng. Am Ende sah sie diesen Schostakowitsch persönlich, denn er wurde zur Verbeugung auf die Bühne gerufen. Sie hielt ihn für einen hübschen Jungen, auf irgendwie nervöse Weise ausgelassen. In Russland war alles so sonderbar …
    Sie sehen müde aus, Frau Kollwitz. Wenn Sie möchten, können wir zurück zum Hotel den Schlitten nehmen. Die Lichter des Twerskaja-Boulevards werden Ihnen gefallen.
    Um die Wahrheit zu sagen, sie war wirklich sehr, sehr müde, aber sie ertappte sich dabei, wie sie sagte: Danke, das klingt großartig, aber es geht schon.
    Wie Sie wünschen.
    Sie wanderten weiter und weiter, und Rußland kurvte ekstatisch um sie herum, wie die sowjetischen Straßenbahnen, die sich auf Doppelgleisen durch das Mosaik aus Pflastersteinen schlängelten, die Kreuzung war fast leer, hinter der Tram überquerten ein paar

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