Europe Central
danach, nur einmal das Gegenbild zu jenem krankhaften Kummer zu erleben, den zu durchpflügen sie so lange ver
dammt gewesen war? Und wenn hier etwas verschleiert wurde – egal! Am Ende des Jahres, wieder in Berlin, nahm sie ihr Tagebuch und pries Moskau mit seiner ganz anderen Luft, so daß Karl und ich wie ausgelüftet zurückkamen.
43 Leicht ließe sich diese Geschichte als Parabel eines guten Herzens schreiben, das sich vor lauter Mitgefühl hinters Licht führen lässt. Aber sie sah die Portiersfrau, obwohl ihnen das nicht recht gewesen sein dürfte. Sie spürte, dass im Tonfall des Genossen Alexandrow etwas verborgen lag. Die Reden auf dem Roten Platz bedeuteten ihr weniger als die verzückten Kinder im Publikum. Sie wusste nur zu gut, dass die Preisrichter der Preußischen Akademie sie lieber irgendwo unter der Rubrik Frauensport, Frauenheim, Frauenhaus (veraltet für Bordell) , Frauenkauf abgehakt hätten, als sie als Künstlerin anzuerkennen. Warum ihr nicht zubilligen, dass sie auch deren sowjetische Gegenstücke durchschaute? Als der Genosse Alexandrow sie zum Beispiel, vielleicht aus aufrichtiger Neugier, wahrscheinlicher aber, weil er wissen wollte, wie weit ihre Kooperationsbereitschaft ging, nach ihren Ansichten über die Verelendung des Proletariats in Deutschland fragte, blickte sie dem Mann in die Augen und antwortete dann: Wenn Mann und Frau gesund sind, ist das Arbeiterleben nicht unerträglich.
44
Im Rückblick betrachtet – was hätte sie denn denken oder begreifen sollen ? Freude an Menschen und das Mitgefühl mit ihnen hatte immer zu ihren größten Glücksmomenten im Leben gehört;
45 sollte das nicht für alle gelten? Sollte ihr Mitleid mit der Arbeiterklasse bei allen Einschränkungen durch ihre bürgerliche Herkunft nicht hinlänglich für sie sprechen, so dass die »Nachwelt« ihr nicht noch mehr abzuverlangen haben würde? Es kann gut sein, dass ihre Eindrücke von Russland so sind wie das Denkmal für Peter, das einst ihn und nun seine Eltern darstellte. Manchmal fürchte ich, dass es mit jedermanns Eindrücken von allem so geht. (Danilo Kiš würde all das mit der ihm eigenen Ironie viel besser ausdrücken; leider ist er nun zu Peter aufgefahren.) Vielleicht hat sie wirklich weitergearbeitet, ohne sich Illusionen zu machen. Zu schreiben, dass es Lauscher gab, während sie die »Zuhörenden« zeichnete, wäre zu billig. Aber selbst wenn es so gewesen wäre, und selbst wenn sie es nicht bemerkt hätte, was ändert das?
Ich habe gelesen, nicht in ihren Tagebüchern, sondern im Bericht des Genossen Alexandrow, dem ich sehr nahestehe, dass sie einmal, als er eine Bemerkung machte, die sie als finster ausgelegt haben moch
te, denn diese Bemerkung schien sie dazu verführen zu wollen, das Bildnis des Genossen Stalin zu preisen (dunkelhaarig, dunkler Schnurrbart, nicht ganz asiatisch, fast ein Lächeln), einfach geantwortet habe: Jeder von uns hat seine Pflicht zu tun.
Man kann durchaus sagen, dass dieses neue Rote Russland aus riesigen Lastwagen mit Hundeschnauzen und Straßenbahnen mit Flachdach sie buchstäblich berauscht hat, und zu der hübschen dunkelhaarigen Elena – ja, sie hieß wirklich Elena –, die allen erklärte, Frau Kollwitz habe sich der Radierung zugewandt, um der Arbeiterklasse die größtmögliche Anzahl Drucke zukommen zu lassen,
46 spürte Käthe sich ganz plötzlich körperlich so stark hingezogen, wie sie es bei einer Frau seit ihren Mädchentagen nicht mehr erlebt hatte. Es klingelte ihr in den Ohren. Tapfer versuchte sie, das »Propellerlied« zu singen …
13
Als die Zeit ihrer Abreise gekommen war, gab man natürlich noch ein Fest für sie, und am Bahnhof erwartete sie eine kleine, spontan zu ihren Ehren organisierte Menschenmenge; ein paar trugen sogar Spruchbänder. Unter ihnen stand ein junger Fotojournalist aus Odessa; er bat um Erlaubnis, mit der Kamera seines toten Vaters ihr Bild aufzunehmen; schüchtern und leise ließ er sie wissen, er hoffe, ein Redakteur, mit dem er bekannt sei, werde der Veröffentlichung eines Fotos der großen Künstlerin K. Kollwitz in der Wsemirnaja Illustrazija zustimmen . Inzwischen war sie müde, sehr müde; aber er tat ihr auch leid, also nickte sie.
Er war sehr aufrichtig und arbeitete schnell. Am Ende mochte sie ihn. Er fragte, ob sie bereit sei, sich gleich dort auf dem Bahnsteig mit ihrem jüngsten, nach dem Leben in unserer Sowjetunion gezeichneten Meisterwerk, »Zuhörende«, in Positur zu stellen, aber sie
Weitere Kostenlose Bücher