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Erden weilen würde. Karl hielt sich bescheiden aus dem Bild, außer wenn man ihn rief. An ihn erinnerten seine armen Patienten sich so: Der Arzt kam sofort – seine Rechnung nie.
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Ein weiterer Mann in himbeerfarbenen Stiefeln, der sich als Kunstkritiker vorstellte, deutete auf eine ihrer Radierungen und verlangte brüsk, dass sie sie ihm erkläre.
Nun, sagte Käthe, sie zeigt das typische Unglück in Arbeiterfamilien. Sobald der Mann trinkt oder krank wird, hängt er entweder wie ein Klotz an seiner Familie oder wird verrückt oder nimmt sich das Leben. Bei der Frau, verstehen Sie, ist es dann immer derselbe Jammer.
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Aber bei uns kommt das nicht mehr vor, weil wir alle Teil des Kollektivs sind.
Das freut mich wirklich, sagte sie. Es ist sehr, sehr schön, an einem Ort zu sein, wo es tatsächlich Hoffnung gibt!
Der Mann nickte ohne jedes Lächeln und schrieb etwas in ein Notizbuch.
Dem Weber-Zyklus (dunkel bis in jede Falte, der Grund aus feinen Linien, alles marschierte, schritt voran oder brach auf: ausgestreckte Hände, gekrümmte Körper, Fäuste, um Steine geklammert, dunkle Häuser mit Leichen auf dem Boden, irrsinnig gewordene Witwen, die ins Nichts griffen) hatten sie einen eigenen Raum gewidmet. Dies war das Werk, für das sie die goldene Medaille hätte erhalten sollen, wäre da nicht das Veto des Kaisers gewesen.
Eine Proletarierin rief aus, laut und lebhaft, aber gefiltert durch die dunkelhaarige Dolmetscherin, Frau Kollwitz stehe im unbeirrbaren Klassenhass zweifellos an unserer Seite, da sie doch im letzten Krieg ihren Sohn verloren habe.
Solche Gefühle sind mir nicht fremd, ja.
Ist das mit Ihrem Kind wirklich wahr?, fragte die Dolmetscherin nach. Frau Kollwitz, es tut mir ja so leid! Auch in meiner Familie …
Und die Kustodin flatterte aufgeregt umher und regte sich über alles auf.
Käthe wusste, dass der Blick, den ihre neuen Freunde mit ihrer seelenvollen slawischen Art auf ihre Arbeit warfen, mindestens so tief ging wie der ihrer Landsleute, und tatsächlich ließen die Kommentare, be
sonders was den Weber-Zyklus anging, weder an Leidenschaft noch Scharfsinn zu wünschen übrig. Nichtsdestotrotz war da die Dolmetscherin, die vom wichtigsten Ereignis ihres Lebens keine Ahnung gehabt hatte, gar nicht zu reden von der armen Kustodin, die, wie viele ihrer Generation auf der ganzen Welt, so schwer unter dem Erfolgsdruck litt, dass sie keine Zeit hatte, sich der Schöpferin dieser Arbeiten zu widmen; die Frau, die Trauer durch Hass ersetzen wollte; diese Menschen infizierten sie langsam mit einer Enttäuschung, gegen die sie sich so verzweifelt auflehnte wie nur je ein Alter Kämpfer gegen den Feind.
Stimmt es, Frau Kollwitz, dass die Rechten Sie als Staatsfeind bezeichnen?
Karl lachte stolz, und sie gab es mit halbem Lächeln zu.
Verschiedene ihrer neuen Kollegen – so schlaue, zarte junge Theoretiker! Dass sie außer einem alle zum Untergang verdammt waren, muss nicht betont werden – hielten dafür, dass die Kunst, wie die Revolution, ein dynamischer, allumfassender Prozess sein müsse; sie wiesen sie darauf hin, dass Gemälde und Radierungen nur Augenblicke festhalten könnten, während ein Film die Zeit selbst abspulen könne, wenn der Vorführer ihn aus der Dose nahm. Außerdem, wie ein junger Mann in ausgezeichnetem Deutsch insistierte (er trug, wie Hans als Student, ein kleine ovale Bügelbrille), könne die zeitliche Folge einer Bewegung leichter und exakter durch akustische als durch optische Gliederung verständlich werden.
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Das ist mir alles zu hoch, erwiderte sie gelassen. Sie hörte ihm kaum zu. An jenem Morgen hatte sie auf der Straße eine Frau gesehen, eine alte Frau, die offensichtlich nichts anderes kannte als harte Arbeit. Sie wünschte sich immer noch, sie hätte diese Frau in die Arme geschlossen.
Ihre »Frau mit totem Kind« ist grandiose Propaganda, sagte der junge Mann. Sie mobilisiert uns gegen die Blutbäder und Massaker, die unvermeidlich sein werden, solange das Kapital die Welt regiert.
Danke, sagte sie.
Sie glauben, dass mir das Erbarmen fehlt. Das merke ich. Für Sie bin ich nur ein Narr, der in eine Idee verliebt ist.
In eine wunderschöne Idee, sagte sie so höflich wie möglich. (Wie müde sie war!)
Davon schien er sich ermutigt zu fühlen. Er kam ein wenig näher und gestand: Früher habe ich geglaubt, wenn es mir gelingt, mein Leben zu leben, ohne dass jemand Erbarmen mit mir haben muss, habe ich viel erreicht. Und ich liebte die
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