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über die Räder senkten wie die verklammerten Kinnbacken fressender Gottesanbeterinnen; Karl half ihr hinein, und obwohl der Wagen sehr langsam fuhr, der Glätte wegen, fanden sie sich blitzesschnell genau am vorgesehenen Ort. Das Gepäck wurde ins Hotel gebracht.
Karl hatte gehofft, sich die Beine vertreten zu können; er hatte sich auf einen Spaziergang über die Twerskaja gefreut, aber man sagte ihm, dafür sei keine Zeit, der Zugverspätung wegen. Traurig blickte er ins Schaufenster einer Konditorei auf der anderen Straßenseite. Aber da stand schon die Kustodin, die fröstelnd auf sie wartete. Und da stand die hübsche Dolmetscherin mit ihren langen dunklen Haaren. Der Mann mit den himbeerfarbenen Stiefeln, der sich ganz privat über etwas zu amüsieren schien, winkte zum Abschied und fuhr mit dem Fahrer davon. Dann mussten Käthe und Karl ihre Mäntel abgeben. Käthe war ein wenig schwindlig; sie wusste nicht genau, warum; Karl musste ihr aus dem Mantel helfen. Sie hatte so sehnlich hier sein wollen, und jetzt war sie kaum noch neugierig. Und sie hatte Angst, etwas falsch zu machen, etwas Wichtiges in der Manteltasche zu vergessen oder diese Russen irgendwie zu beleidigen, so gut gelaunt sie auch wirkten – diese Dolmetscherin zum Beispiel, die nervös sein musste, denn sie versuchte mit einem solchen Feuereifer, zuvorkommend zu sein, dass Käthe keinen eigenen Gedanken fassen konnte. Der Name der Dolmetscherin mochte Elena sein; Käthes Erinnerungsvermögen ließ nach. Karl würde es bestimmt noch wissen, aber wie konnte sie ihn fragen, solange das Mädchen neben ihnen stand? Egal. Die Kustodin winkte und zirpte. Dieser Gatte, der ihr früher rote Rosen ans Bett gebracht hatte, der weinte, wenn er ein vollendetes Werk von ihr sah, der Peter immer im Sprechzimmer untersucht und dann seine ganzen Sorgen um die
Zartheit des Jungen mit ihr geteilt hatte, was für ein braver Mann er doch war! Lieb flüsterte er ihr ins Ohr: Ich bin wirklich stolz auf dich, Käthe. – Sie nahm seine Hand.
An den Wänden der Ausstellungsräume hatte ihr Gram schon seinen Platz gefunden, gerahmt und beschildert: Holzschnitte im Hauptsaal, Lithografien links, die wichtigsten Radierungen rechts, Zeichnungen im vorangehenden Saal;
28 vielleicht hätte sie es ein wenig anders gemacht, aber die nervös verzückte Kustodin, die fortgesetzt an den Nägeln kaute, blickte sie mit solcher Anbetung an, dass sie sie ihrer völligen Zufriedenheit mit Anordnung, Auswahl und Beleuchtung der zahllosen großäugigen, himmelwärts blickenden Käthe-Kollwitz-Kinder versichern musste, der fahlen, auf die Hände gestützten Figuren, der bleichen und schmutzigen Frauen, die Gesichter im Lichtschein der Ausbeutung. Sie waren alle wirkliche Menschen, ihre Tragödien so sehr mit dem Leben selbst verknüpft wie mit allem sonst: Grete, deren Wahnsinn einen starken sexuelle Einschlag hatte und die mit Dreißig verheiratet und noch Jungfrau war; Anna, die in der acht Jahre dauernden Wechselzeit von konstanten sexuellen Erregungen und Melancholien gepeinigt wurde und an Selbstmord dachte; die alte Proletarierin, die finster und zornig vor der Morgue stand, nachdem die zweihundertvierundvierzig Kommunisten erschossen worden waren.
29 Die peinverwinkelten, gramverzerrten Kompositionen wurden von ihren Holzschnitten überstrahlt, mit ihrem kargen Pseudorealismus.
Und da hing eine vergrößerte Fotografie von ihr aus alter Zeit. In ihren Zwanzigern hatte sie Lenins Frau seltsam ähnlich gesehen, Nadeschda Krupskaja, die, wie der Zufall es wollte, nur zwei Jahre jünger war als sie. Beide Frauen hatten denselben scharfen Blick, dieselben zusammengekniffenen Lippen, als wollten sie deren Fülle verbergen.
30 Käthe versank in den Anblick ihres Bildnisses als junge Frau. Aus irgendeinem Grund, sie verstand es selber nicht, wagte sie nicht, Karl anzublicken.
Man stellte sie dem Sowjetvolk vor und erklärte: Ihre Familie war in der Arbeiterbewegung aktiv.
31 Der Saal war dicht an dicht mit ihrem Lebenswerk ausgeschmückt, und all diese Russen hielten sie so liebevoll in Ehren, dass sie kaum noch wusste, wer sie war. Man fotografierte sie sitzend im Kreise unserer sowjetischen Künstler, die alten Lider herabgesunken, junge Frauen liebevoll an sie geschmiegt, das Licht spiegelte
sich in den Bügelbrillen von Malern, Fotografen, Schauspielern, einer aus der Truppe von Meyerhold stellte sich steif oder ironisch abseits, als wüsste er, dass er nicht mehr lange auf
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