Europe Central
wenig Glück wie damals 1945.
37
Unser Justizminister, Fechner, der dumm genug gewesen war, für
das Streikrecht der Arbeiter gegen ihr eigenes Regime einzutreten, wurde am 16.7.53 abgesetzt. Die Rote Guillotine trat an seine Stelle. Und nun beginnt ihre Legende wirklich.
Wie die Große Sowjetische Enzyklopädie erklärt: Der Generalstaatsanwaltschaft, geleitet durch den Generalstaatsanwalt der DDR , obliegt die Aufsicht über die Einhaltung des sozialistischen Rechts.
38 Nun fand die Generalstaatsanwaltschaft in der Roten Guillotine ihren vollen und natürlichen Ausdruck.
An der Invalidenstraße, ein kleines Stück östlich von der Stelle, an der sich bald die Mauer erheben sollte, war nun die Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen, fertiggestellt 1905, nazifiziert 1933, Hilde Benjamins Justizgebäude geworden, und allmorgendlich traf sie Punkt 08:00 dort ein; um 07:50 scherzte sie mit den beiden Trümmerfrauen, die sie täglich auf der anderen Straßenseite sah; die eine trug eine Schutzbrille und hatte sich das weiß bestäubte Haar zu einem Dutt gebunden; die andere, die jünger war, trug einen dunklen Rock, der nicht weit über das Knie reichte; wenn sie Pause machten, konnte die Rote Guillotine sie oft auf den Ziegeln hocken sehen, den Rücken an den Ziegelhaufen gelehnt, den sie eben aufgeschichtet hatten; die Trümmerfrau mit der Schutzbrille starrte in die Luft, und die Trümmerfrau im Rock las Zeitung. Aber das ging nur ein Jahr so. Dann war der Schutt vor dem Gerichtsgebäude geräumt. Die Rote Guillotine vermisste die Frauen ein wenig. Manchmal schlenderte sie im Sommer ans Fenster und blickte nach Westen. Sie konnte sehen, wie das Laub des Tiergartens die Sommerwolken grün färbte. Ihre wichtigsten Strafverfahren sind bekannt, geht die Legende, und bedürfen keiner weiteren Aufzählung.
39
17
Wir verhafteten sechstausend Kriminelle, Faschisten und ausländische Spione. Im August begannen die sowjetischen Militärtribunale, die Anführer erschießen zu lassen; andere hatten wir bereits liquidiert. Die Rote Guillotine soll diesen Gelegenheiten gerne beigewohnt haben; besonders gern inspizierte sie vorher den Sarg. In ihrer Stasiakte heißt es in einer Beurteilung aus dieser Zeit:
40 Schon lange hatte sie unserem Strafgesetz das Verbrechen des Vergehens gegen die Arbeitsdisziplin und das des Vergehens gegen die Planerfüllung hinzugefügt. Voller Hohn erklärte sie den Angeklagten: Sie haben das Recht zum Streik, jawohl, aber ein faschistischer Putsch ist kein Streik! Im Namen des Volkes erkläre ich Sie für schuldig ; Sie werden zum Tode verurteilt! – und dann trank sie ein Glas Wasser.
Erwartungsgemäß unterschied sie in ihren Urteilen stets sorgfältig zwischen irregeleiteten Arbeitern und Provokateuren.
18
Was war mit Fechner? Diese Frage lag der Arbeiterklasse bis 1955 auf den Lippen, als unsere liebe Rote Guillotine ihn verhaften ließ. Sie gab ihm Gelegenheit, seine Haltung zu erläutern, nicht um seinetwillen, sondern zum Nutzen des Volkes, das erst noch lernen musste, wie wichtig Wachsamkeit war. Dann verurteilte sie ihn zu acht Jahren Haft.
19
An den Gerichten stellte sie neue Brigaden von Ausbildern auf, um die Richter zu lenken und um sie aus Werkzeugen der bürgerlichen »Objektivität« zu unnachgiebigen Kämpfern zu machen – eine umso wichtigere Aufgabe, da sie nun zu fürchten begonnen hatte, dass viele ihrer eigenen Kollegen in ihrer Arbeit unzuverlässig und nicht gründlich genug sein könnten. Sie wies ihre Lakaien an: Im Kampf gegen die Gegner unserer Ordnung dürfen wir weder Nachgiebigkeit noch Schwäche zeigen. Deshalb sind harte Strafen die richtigen Strafen.
Der Genosse Gotthold Bley staunt über ihre Leistungen in dieser Zeit und vergleicht sie implizit mit einer Fabrikarbeiterin, wenn er schreibt: Sozialistisches Recht und sozialistische Gesetzlichkeit waren für sie Instrument, Hebel und Motor.
41
Sie zog die Vorlage für das neue Strafgesetzbuch zurück, weil es ihr nicht streng genug war. (Ob man es glaubt oder nicht, in vielen Unterkategorien beruhten die Gesetze weiter auf dem Strafgesetzbuch von 1871.) Das Recht wurde jetzt so ordentlich wie die in Dresden geborge
nen und auf Handkarren aufgeschichteten Ziegel. Mit einem bitteren Lächeln verschränkte sie die Finger wie Scheren, und ihre Augen glänzten fast vor Glück, wenn sie wieder eine Verschwörung aufdeckte. (Genosse Büttner: Sie hat die dialektische
Weitere Kostenlose Bücher