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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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die schwere, blasse, irgendwie distinguierte Traurigkeit, die ihr den Kopf niederdrückte; die düstere Schwere ihres Kostüms hellte sich auf, denn seine Kalaschnikow glänzte.
    Nun nun, Genossin Benjamin, rollt heute wieder ein Kopf?
    Worauf Sie wetten können!, lachte die Rote Guillotine.
    Sie bildete sich ein, dass er sie mochte, dabei hatte er Angst vor ihr.
    Und dann ging es hinauf in ihr Büro, wo eine Galerie toter Heiliger auf sie herabblickte: E. Melsheimer, der Pionier unter den Staatsanwälten, K. Polak, der Verfassungsrechtler, der tapfere G. Dimitroff, der einem Gericht der Hitlerianer getrotzt und obsiegt hatte, und natürlich jener Repräsentant der internationalen Arbeiterbewegung, F. Dserschinksi, dessen »Organe« in unserer geliebten Sowjetunion Millionen von Menschen liquidiert hatten.
51
    Der Angeklagte wurde hereingeführt, sein verzweifeltes Gesicht erinnerte sie an das mit weißen Kratern übersäte Dunkel der verrußten Fassade unseres Opernhauses. Die Rote Guillotine war schon im Saal; sie hatte es gern, wenn für ihre Opfer schon alles an seinem Platz war. Man führte sie vor, und da saß mitten an ihrem langen hohen Tisch die Rote Guillotine, zur Linken eine Büste des Genossen Ulbricht und zur Rechten eine des Genossen Stalin. In ihrem unverkennbaren dunklen Kostüm mit der weißen Bluse und der schwarzen Krawatte überschaute sie die Welt, mit hochgerecktem Kopf und verschränkten Armen und einem wohlgefälligen Blick hinab auf unsere sozialistischen Reporter und Fotografen;
52 dann wandte sie ganz gemächlich den Kopf,
um ihre jüngste Beute in Augenschein zu nehmen, die sich auf dem Weg zu ihrem Platz auf der Anklagebank, eingezwängt zwischen Geheimpolizei und sogenannte »Verteidiger«, fühlen musste wie ein zu spät gekommener Schüler. Und das war nur das erste der Gefühle; denn jetzt ist es Zeit, unsere Aufmerksamkeit auf das Grauen zu richten, das ihre Anwesenheit den Menschen einflößte; sie lähmte sie wie mit Spinnengift, bis sie ganz verwirrt, unterwürfig und still waren. Wenn man die Verurteilten später in die gekalkte Hinrichtungskammer führte, versuchten sie in den letzten Augenblicken ihres Lebens vergeblich zu verstehen, wie diese Frau sie in die Falle gelockt hatte; dabei war sie nicht eloquent (das musste sie auch nicht sein, sie leckte sich die Lippen, mit einer grauen und hämischen Zunge); ihre Logik ließ sich nie nachvollziehen – wie denn auch? Die Angeklagten waren ja unschuldig, nach jenen »objektiven« Maßstäben, die jetzt überflüssig geworden waren.
    Und wer war nun dies ? Offenbar hatte ein Trupp Trümmerfrauen die Überreste der Grabsteine auf dem Jüdischen Friedhof abgeräumt, als sie ein Geräusch hörten, also stellten sich drei von ihnen mit zum Schlag erhobenen Schaufeln rund um die Grube auf, und die vierte lief die Volkspolizei holen. Der faschistische Kriegsverbrecher Hagen hatte sich dort verborgen. Was für eine Provokation! Die Anglo-Amerikaner hatten so getan, als würden sie ihn in Nürnberg aufhängen, und jetzt war er hier! Er hatte einen Tunnel und sogar einen Detektorempfänger, damit er die Befehle der Feinde unseres neuen Deutschlands entgegennehmen konnte. Eine Neuauflage der anglo-faschistischen Operation Gold. Unsere tapfere Volkspolizei, angeführt von Oberst H. Scholz, eilte zu Hilfe; Rotarmisten jagten in ihren Jeeps die Leninallee hinunter. Und so ging uns die imperialistische Schlange Hagen ins Netz.
    Erst spitzte sie die dicken grauen Lippen, dann zeigte sie die schiefen Zähne; die Rote Guillotine blickte den Angeklagten aus zusammengekniffenen Augen an, und er blickte frech zurück. Oh, wie da der Zorn in ihr aufstieg! Unterdessen kreischten unsere Jungen Pioniere (Alter: sechs bis zehn) schon im Namen der lächelnden Brigadisten und lachenden Sportler Ostdeutschlands: Nieder mit dem Verräter! , und unsere Thälmann-Pioniere (elf bis vierzehn) schwenkten wunderschöne handgemalte Plakate zur Unterstützung unseres unweigerlich gerechten Urteils, wie es auch ausfallen würde.
    Geschätzte Genossen und Freunde!, setzte die Rote Guillotine im
Namen des Volkes an; und ihre weit aufgerissenen kleinen Augen und ihr kleiner offener Mund waren ach so bereit, für Gerechtigkeit zu sorgen. Wachsamkeit gegen das Gewürm! Spione, seht euch vor! Wir haben wieder einen geschnappt!
    Und doch, so finster sie auch blickte, so sehr sie die Augen auch blitzen ließ, der faschistische Verräter wollte den Blick nicht senken und

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