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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Nächten Anfang '45, als es von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends keinen Strom gab und er ab drei Uhr nachmittags, wenn die Kräfte der Wintersonne versagten, im kalten Dunkel sitzen musste und im funzeligen Licht der Petroleumlampe nicht komponieren konnte; später war er dann angespannt, konnte vor Mitternacht nicht schlafen, wachte im Dunklen auf und sein Herz ratterte wie ein Maschinengewehr. Und jetzt … Kurzum, seine Hauptaufgabe bestand heute darin, Erwiderungen auf diverse absehbare Attacken vorzubereiten. Gelegentlich trug man ihm Gelegenheitsarbeiten auf: Nun, Dimitri Dimitrijewitsch, in Moskau wird aus vierundzwanzig Kanonen Salut geschossen, zur Feier der Befreiung jeder einzelnen Großstadt, damit die ganze Welt weiß, dass es nicht nur um Leningrad ging, sondern auch um Minsk, Kiew, Stalingrad und all die anderen! Wir haben beschlossen, und da wirst du uns sicher zustimmen, dass deine Fanfare aus Akkorden aus vierundzwanzig Noten bestehen sollte, was bestimmt einen beeindruckenden klanglichen Effekt machen wird, viel weiter
ausgreifend als das Bass-Thema, das zu schreiben man dich beauftragen wird, um das faschistische deutsche Oberkommando darzustellen. Dann war es wieder Zeit für einen Traum, in dem er in einer Regennacht sein Heim verließ. Nina schrie und drohte ihm hinter dem Glas der Haustür mit der Faust, und Maxim und Galja formten mit den Lippen stumm das Wort Papa, Papa, Papa!, während er in der Dunkelheit zu Elenas Wohnung ging, wo sie ihm erlaubte, sie durch das Fenster zu küssen, ihn aber nicht hereinließ.
    Wie lange würde er sich auf Linie halten können? Hunderte Male quälte er sich nachts mit seinen Ängsten. Glikmann schleppte ihn in »Das sowjetische Kasachstan« von Roman Karmen, einen zuverlässig spektakulären Film. Natürlich hatte er Angst, im Kinopalast Elena zu begegnen; als es nicht geschah, war er niedergeschmettert.
    Im Jahr 1950, kurz nachdem die reaktionären Kräfte unsere Berlin-Blockade gebrochen hatten, komponierte er die Musik zu einem Film mit dem Titel »Belinski« und schrieb die Orchesterfassung in demselben souveränen Tempo, in dem einst der ehemalige faschistische deutsche Feldmarschall Paulus seine Schlachtordnungen aufgestellt hatte: eine Zeile für jede Untereinheit, motorisiert oder nicht, jeder Division ihren eigenen Takt, dann die Takte zu Korps zusammengefasst, die er zu seinen Armeen zusammenzog; die Armeen verschmolzen zu Heeresgruppen; die Apparatschiks waren begeistert. Mit Hamlet ging es fast ebenso. Das schwarze Telefon läutete; Roman Karmen wollte ihn wissen lassen, dass er seine Filmmusik vollendet fand, ganz hervorragend.
    Aber Karmen klang traurig! Seine Stimme war ganz … Er war vielleicht noch nicht ganz über Elena hinweggekommen, genau wie wir anderen – ach je! Aber es wäre nicht richtig, wenn ich ihn, nun ja, besonders da er und ich, und außerdem, er muss Arnstam für mich anrufen; ich brauche Arbeit; Sie müssen mir einen Gefallen tun, lieber Leo Oskarowitsch! Weil, das ganze Geld für »Soja« ist weg. Die Kinder sind so … Übrigens, was ist eigentlich aus ihrer Schauspielerin geworden, der Wodjanitskaja? Eine ausgezeichnete Soja! Sie erinnerte mich ein wenig an Elena. Aber was will dieser Apparatschik von mir? Warum geht er nicht aus der Leitung? Besonders, da ich langsam ein wenig in, nun ja, Panik gerate? Mein lieber Roman Lasarewitsch, wenn Sie mir eine – ähem! – musikalische Metapher erlauben wollen, nicht dass ich, nun ja, man stimmt sich, sozusagen, ein auf den Menschen, den
man liebt. Und dann verspürt man, selbst wenn man sich an irgendeine Fremde klammert oder sie sogar mit ins Bett nimmt und dann, Sie wissen schon, alles nur, um sich gegen dieses Trommelfeuer aus den Kanonen der Einsamkeit zu schützen, so eine Langeweile und, und – der Ersatz kann einfach die Melodie nicht halten! Deshalb mag ich zu freundliche oder zu feindselige Beziehungen zwischen den Menschen einfach nicht.
27 Oder selbst wenn der Ersatz die Melodie halten kann, eine andere Tonart hat eine andere, ich weiß auch nicht. Also sagt man adieu. Aber kaum ist man wieder allein, kehrt die Sehnsucht nach jenem Menschen zurück, auf den man eingestimmt ist, und dann, Sie dürfen nicht glauben, dass ich das nicht kenne! Wie kann ich Ihnen etwas davon vermitteln, mein lieber, lieber Roman Lasarewitsch? Übrigens, wenn Sie Leo Oskarowitsch das nächste Mal sehen, grüßen Sie ihn doch bitte von mir und fragen Sie ihn, ob er

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