Europe Central
vier Söhne in der Schlacht um Stalingrad gefallen); da solche Nachrichten aber nur unter Schmerzen gesendet und empfangen werden können, finden wir uns besser schweigend in geteiltem Schrecken zusammen und kommunizieren nur mit Blicken oder den Mitteln der Musik. Was war sie also für ein Mensch? Als sie zu spielen begann, erfüllte sie die Thomaskirche nicht mit beseelter Schwermut; stattdessen erstand etwas Leichtes, ganz Eigenes, Sprödes: ein Schloss, kein Springbrunnen, ein Artefakt, dessen Oberfläche ein geometrisch präzises und nahezu vollendetes Mosaik aus Noten war; ihre Interpretation war frei von Clair-obscur, reines Können. Ohne Melodrama oder Hast, mit der scheinbar simplen Harmonie einer römischen Inschrift baute sie ihre Schlösser in die Luft und zeigte sich ganz nackt, schamlos und angstfrei, wie er es nie gekonnt hätte; selbst in seiner Jugend, als er die Zukunft gewesen war, ein Prinz, den nie ein Unglück treffen würde, hatte er sich nach seiner Weise eher extravagant ausgedrückt – daher die schelmischen Groteskerien der »Nase«, das Schnellfeuer des »Bolzens«, die komplexen Dissonanzen der »Lady Macbeth«, die alle weder forciert noch »falsch« waren, einfach nur hyperaktiv, vielleicht ein wenig bang; so war D. D. Schostakowitsch nun einmal; das war »ehrlich«, aber, aber, wie soll ich sagen? Die Nikolajewa spielte mit der Würde einer Zarin, graziös und gelassen, ohne Hast. Es war, als wollte sie ihm sagen: Alles, was geschehen ist, ist ohne Belang; es kann uns nicht mehr wehtun; es gibt nur Musik, die in uns lebt und außer uns, die uns braucht, damit sie zum Ausdruck kommt, die aber ewig überleben kann, bis es das nächste Mal geschieht. Schloss folgte auf Schloss.
Die Jury hatte sie gebeten, von den achtundvierzig Präludien und Fugen Bachs einfach die zu spielen, die sie am gründlichsten eingeübt hatte; sie spielte alle. Schostakowitsch konnte nicht an sich halten. Er sah die grauen Eierköpfe in den Bänken nicht mehr. Er fühlte sich, wie soll ich sagen, gestärkt, denn … (ich darf dieses Geheimnis hoffentlich verraten) er hatte das Gefühl, als hätte er eine neue Gefährtin für das Leben unter den Klaviertasten gefunden! Nicht dass er je mit ihr … Außerdem würde er sich nie wieder einfangen lassen. Denn nach Elena mit dem ganzen, Sie wissen schon, war es besser, nicht einmal … Und heute hieß sie Elena Vigodski, man denke nur! Und wie sollte ich mir Hoffnungen machen können? Zumindest kann ich … Und so gewann Tatjana den Wettbewerb. Blumen für sie! Noch mehr Blumen auf Bachs Grab … Dauernd rutschte ihm seine Brille die Nase herunter. Er fühlte sich sehr … Gleich und auf der Stelle beschloss er einen Zyklus von Präludien und Fugen zu komponieren (op. 87), in aufsteigenden Quinten, ihr gewidmet. Die kurze fröhliche Flamme der Fuge in a-Moll, die er im Jahr darauf schreiben sollte, wurde seine besondere Huldigung an ihre Seele.
Verehrter Genosse …, sagte ein Deutscher, aber da flog Schostakowitschs Innenleben schon in bedächtigem Feinsinn davon, gerade so wie das erste Präludium, das Moderato in C-Dur, ganz einfach mit den Noten Bachs beginnt, melodisch und lieblich, klassisch, als sei da ein braver kommunistischer Komponist ganz der korrekten harmonischen Linie treu geblieben; und dann kommt eine Dissonanz. Die Melodie kehrt zurück, aber chromatisch gedämpft und vernebelt. Weiter und weiter schwingt das Präludium sich auf in den Himmel der reinen Musik, bis diese geordnete Landschaft unter einer Wolkendecke zur letzten Ruhe gebettet wird und wir uns hoch über die Atonalität hinauf erheben, in eine Heiligkeit, die unbegreiflich bleibt. Tief unten zeigen sich Blitze einer grünen und goldenen Ordentlichkeit und dann verschwinden sie, denn wir sind im Himmel. Wir sind entkommen. Wir haben sie alle überwunden. Wir sind gestorben.
----
[ 40 ] Wie die Große Sowjetische Enzyklopädie erklärt: »… die Westmächte … sabotierten die Arbeit des Alliierten Kontrollrates zunehmend und zerstörten ihn im März 1948 ganz.«
21
20
Im Jahr 1951 wurde er zum Deputierten des Obersten Sowjets der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik gewählt. Als er seinen Platz einnahm, spürte er den Blick des riesenhaften bleichen Lenin im Rücken. Lenin war aus Stein. Er selbst war aus Stein. Sie fragten ihn, wann er Lenin eine Sinfonie weihen werde, und er murmelte etwas. Seine Gedanken waren so stumpf und spröde wie
Weitere Kostenlose Bücher