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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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es war sowieso besser, man dachte an etwas anderes, zum Beispiel an Elena Konstantinowskaja. Ihr Haar war wie Feuer und ihre Haut wie Milch. Was, wenn sie in Dresden gewesen wäre, als die Anglo-Amerikaner kamen? Warum hatte sie sich von Roman Lasarewitsch scheiden lassen? Glikmann sagte … Nein, er sollte lieber nicht an Elena denken.
    Pause! Zeit, Glikmann eine Postkarte zu schreiben: Alles steht so gut, so zum besten, dass sich Schreiben fast erübrigt.
28
    Nachdem sie ihm die Stalinallee gezeigt hatten, bat er darum, sich im Hotel ausruhen zu dürfen, denn dank seiner Schulung in Leningrad besaß er bereits ein tiefes Verständnis der Art, wie zerbombte Häuser an ihren stabileren Ecken überlebten, um schaurige Türmchen zu formen, deren kirchenartige Erscheinung in der Nacht betont wird, wenn die Sterne mit ihrem Licht das Schiff einer gigantischen Kathedrale aus Nischen, Krypten, Emporen, freistehenden Torbögen beschreiben, in der man halb eine russische Ikone zu sehen erwartet, das marmorne Abbild eines deutschen Kirchenheiligen oder den Sarkophag eines Kaisers; aber da gibt es nichts, dem man eine Opfergabe darbringen könnte, keinen Anlass, im Gedenken an die Toten der Schaltstelle Europa auch nur eine verwelkte Blume hinzulegen. Jetzt leuchtet ein gelblich weißes Licht auf: eine Militärpatrouille. Näher werden wir vergoldetem Gitterwerk nicht kommen, Genossen! Spar dir dein Gold für das Opus 110 auf.
    Bitte, Genosse Schostakowitsch, bettelte heimlich eine deutsche Frau,
mein kleiner Bruder kommt nicht durch die Entnazifizierung, weil in seiner Schule alle in die Hitlerjugend mussten. Er konnte nichts dafür; was sollte er denn machen? Diesen Brief, den habe ich letzten Monat bekommen, da steht, dass man ihm die Wohnung weggenommen hat, und danach habe ich nichts mehr …
    Gewiss, gewiss. Das tut mir sehr leid, liebe Frau. So ist das Leben …
    Und ein Zug trug ihn von dannen, quer über das Grün der weiten deutschen Auen.
    19
    In Leipzig stand er neben der Pianistin T. P. Nikolajewa, die frisch aus Moskau eingetroffen war.
    Möchten Sie sich Dresden ansehen, Dimitri Dimitrijewitsch?, fragte ein Mensch in himbeerroten Stiefeln. Es ist nicht weit. Der russischen Seele tut der Anblick der Trümmer wirklich gut. Ich hasse diese Deutschen. Sie doch auch, nicht wahr? Sie haben Leningrad doch nicht vergessen, oder?
    Sie haben den Nagel, sozusagen, auf den Kopf getroffen, Genosse Alexandrow, und wenn ich nach dem Wettbewerb Zeit habe – ach je, wer kann schon sagen, wie lange er dauern wird?
    Und dann gingen sie alle in die Thomaskirche, wohin man eben Bachs sterbliche Überreste wieder umgebettet hatte.
    Die Nikolajewa stand stocksteif da und wartete; sie muss nervös gewesen sein. Obwohl er ihr nach '45 im halbwirklichen Dunkel des Konservatoriums oft begegnet war, hatten ihn seine Müdigkeit, die den Blick verengt, und die vielen Angriffe, die wie glühend heiße Stahlsplitter auf ihn niederregneten, isoliert; diese junge Frau hätte ebenso gut eine Fremde sein können; schließlich hatte sie bei Goldenweiser studiert, nicht bei ihm. Sein Blick war stumpf, abgerundete Dreiecke aus Licht breiteten sich auf seinen Brillengläsern aus. Das Flirten ließ er lieber bleiben; er war zu alt! Vor langer, langer Zeit, da begab es sich, dass die Achmatowa sich die Lippen geleckt und er lachend gekreischt hatte: Sehr gut, Anna Andrejewna, ja, sehr gut. Sie müssen den Ansatz unbedingt feucht halten, da Sie gleich mein Waldhorn spielen werden … – Nein, das war vorbei und vergessen. Diese resche junge Nikolajewa, viel zu lebendig, um unscheinbar zu wirken, vielleicht war es doch noch
nicht zu spät, um, egal, sie lächelte neben ihm und entblößte die obere Zahnreihe. Was war sie für ein Mensch? Ein anderer Jünger der weißen und der schwarzen Tasten erinnert sich an sie als an ein typisches russisches Mädchen, mit ihren Zöpfen, ganz ernsthaft und nett und adrett.
29 Staatsbürger der kapitalistischen Mächte schließen Bekanntschaft, indem sie (so habe ich jedenfalls gehört) einander fragen, wofür sie ihr Geld ausgeben: Sammeln Sie Briefmarken? Ich sehe gerne Kriegsfilme. Um aber in unserem Sowjetland, das nun das halbe Deutschland einschloss und in absehbarer Zukunft das ganze einschließen würde, einen Menschen kennenzulernen, musste man nur wissen, welche Gestalt sein Leid im Großen Vaterländischen Krieg angenommen hatte (Ehemann in Minsk gehängt, Schwester in Leningrad verhungert, alle

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