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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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nicht persönliche Erfahrung, sondern persönliche Beobachtung, aus der heraus ich so genau beschreiben kann, wie Elena im Umgang mit jenen, die sie liebten, ganz distanziert und zornig sein konnte und ganz lieb zu jenen, die ihr entglitten. Ich habe weder Druck auf Roman Karmen ausgeübt noch auf das Schwein Schostakowitsch, bevor ich mir nicht sicher war, dass Elena sich abgenabelt hatte. Nach 1952 zwang ich mich, nicht öfter als ein Mal die Woche nach ihr zu sehen, so groß die Versuchung auch sein mochte. (Ich erinnere mich an einen Wintermorgen in Leningrad, als ich sie zwischen den acht weißen, vormals gelben Säulen des Smolny-Klosters aufblitzen sah.) Als sie im Jahr 1975 starb, hielt ich mich ihrer Beerdigung respektvoll fern. Ich musste kein Genie der Raketentechnik sein (der Raketenbau war für unser Sowjetland von höchster Wichtigkeit und wurde daher von Marschall M. N. Tuchatschewski immer gefördert), um diese Benimmregeln für mich aufzustellen. Die meisten Raketentechniker enden übrigens als Verräter. Ich wünschte, es wäre anders. Aber da es so ist, warum sich dann nicht vorstellen, dass es nur eine ein
zige loyale Raketentechnikerin gibt? Und wer anders sollte das sein als Elena Konstantinowskaja, die rein ist, vollkommen und gut? Soll ich auf der Stelle eine Astrophysikerin aus ihr machen? Sagen Sie nicht, so etwas würde ich nicht wagen! Wenn ich wollte, könnte ich sie mit den purpurroten Rauten schmücken, die wir ausschließlich auf den Schultern der Kommandeure unserer Roten Arme finden!
    B. N. Jurjew erbrachte als Erster den strengen theoretischen Beweis, dass der Hubschrauberflug möglich war. Und wenn ich die Geschichte korrigieren und seinen Namen in E. E. Konstantinowskaja umändern würde? Was könnten Sie dagegen tun? Kann ich sie nicht wenigstens in einen der blauen und grünen sowjetischen Doppeldecker setzen, die fortwährend in den wirbelnden Winden über unseren Köpfen herumbrummten?
    Ich weiß alles, ganz bestimmt. Ich könnte Ihnen genau sagen, welche beiden Achmatowa-Zeilen Wera Iwanowa Elena an jenem letzten Tag am Fluss ins Ohr geflüstert hat, als sie verstanden hatte, dass es wirklich aus mit ihnen war. Ich habe Elenas Tagebuch gelesen (das sich heute in unserem Archiv befindet), und ich habe viel besser verstanden, als sie es je konnte, nicht nur dank meiner Distanz, sondern auch dank meiner Ausbildung, warum sie in der Nacht nach ihrer ersten Begegnung mit Schostakowitsch träumte, was sie träumte. Auch gegen diese Versuchungen bin ich gefeit; Sie werden sich gewiss nicht für zufällige, biochemisch determinierte Charakterzüge interessieren. Aber ich will Ihnen von einem anderen ihrer Träume berichten, denn dies war einer, den wir alle in jenen Jahren träumten, der wachsenden internationalen Spannungen wegen, die unvermeidlicherweise aus dem Profitstreben der miteinander konkurrierenden Kapitalisten entstanden. Wieder und wieder erwachte Elena Konstantinowskaja schwitzend aus einem Traum, den sie beinahe so sehr hasste wie den vom schwarzen Telefon: Sie träumte von einer langen, mit Flossen bewehrten Bombe, die langsam eine leuchtende Pyramide überflog.
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    [ 13 ]  Sie soll der Zwetajewa sogar ähnlich gesehen haben, besonders um die Mundpartie, obwohl auch ihre langen schwarzen Haare, die sie so oft zu einem Pony bis fast an die Augenbrauen frisierte, manchen an die dem Untergang geweihte Dichterin erinnert haben.

Jungfernflug
    »Welches Kind, das Phantasie hat und gleich intensiv in Märchen und in der Natur lebt wie ich, spricht nicht einmal einen Wunsch aus, der vom Alltäglichen abweicht und ins Wunderbare geht?«
    – Hanna Reitsch, deutsche Fliegerin, ca. 1947
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    Das Telefon läutete. Dann war es abgemacht: Krakau uns, Lemberg ihnen, Warschau uns, Brest-Litowsk ihnen. So zogen wir die Ribbentrop-Molotow-Linie. – Keinen Zentimeter mehr!, rief der Schlafwandler in die schwere schwarze Sprechmuschel, aber vielleicht verbarg das gehorsame, unterwürfige Summen etwas. Gern hätte er die Bakelitschale des Telefons aufgebrochen und hineingeblickt, aber ihm graute vor dem, was er dort finden könnte. Egal, Befehle und Argumente würden ihm den Sieg bringen.
    Er sagte dem Telefon: Schicken Sie mir jemanden mit der Schlachtordnung.
    Traudl, sagte er zu seiner Lieblingssekretärin, ob Sie so gut wären, mir den weißen Barbarossa-Ordner zu bringen? Danke, mein Kind.
    Er instruierte das Telefon: Das macht überhaupt keinen Unterschied. Da drüben

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