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Oktobristen bemüht haben, aber sie war ein paar Monate zu alt. Bei den Jungen Pionieren (»Zimmermanns«-Verbindung, Brigade N. K. Krupskaja)
5 wurde sie unter den Kindern eine führende Kraft, dank ihres Enthusiasmus bei der Anfertigung von Umzugswagen und Transparenten. Ihre Entschuldigung dafür, dass sie nicht umgehend in den Komsomol eintrat, nämlich dass sie sich ihren Schulauf
gaben widmen müsse, erscheint mir glaubwürdig.
6 Als sie dann beitrat, mit fünfzehn, blieben ihre Zensuren hervorragend. Eine ihrer Lehrerinnen, die Witwe Ljadowa, scheint für die Entscheidung des Mädchens verantwortlich gewesen zu sein, Linguistik zu studieren. In meiner Vorbereitung auf diese Zusammenfassung konnte ich Elenas Übersetzungen deutscher Militärdokumente überprüfen, da ich im Jahr 1941 unglücklicherweise hatte Deutsch lernen müssen; den negativen Bericht von Leutnant N. K. Dantschenko, der mir zufällig auch vorliegt, kann ich nicht bestätigen; ich kann bezeugen, dass sie wortgetreu und unparteiisch übersetzt hat. Man kann so etwas nicht ohne weiteres voraussetzen, besonders bei Übersetzern aus der ersten Reihe nicht, deren perfektionistisches Streben nach genau dem richtigen Wort manchmal in Selbstdarstellung abgleitet.
An der Arbeit der Konstantinowskaja beruhigt mich das leicht Gestelzte: eindeutig ein Profi, dem es mehr um Genauigkeit geht als um Stil. Außerdem hat sie recht zurückgezogen gelebt. Ich höre aus glaubwürdigen Quellen, dass sie Schostakowitsch zu größerer Umgänglichkeit drängte, wenn er sich unbedacht, respektlos und gelegentlich sogar provokant gegen die Sowjetmacht äußerte. Sie hielt nichts von seinen extremistischeren Bekannten und sagte ihm in einem Streit: Ich bin froh, dass deine Freunde nicht meine Freunde sind!, was ich ihr immer zugutehalten werde. Dass sie sich für sein formalistisch-expressionistisches Opus 40 aussprach, muss man ihr nachsehen, da er es ihr gewidmet hatte. Als wir sie anno 35 in den Norden schickten, wollten wir damit nur Schostakowitsch unter Druck setzen, zur Mahnung. Glauben Sie mir: Wir hatten nichts gegen sie. Im gleichen Jahr haben wir den Sohn und den Geliebten der Achmatowa verhaftet, aus demselben Grund. Es war mir ein Vergnügen, ihr dabei zu helfen, eine vorzeitige Freilassung zu erwirken; nicht dass sie je eine Ahnung von meiner Hilfe gehabt hätte. Meine Arbeit hat mich gelehrt, das Schlimmste von den Menschen anzunehmen. Über Elena Konstantinowskaja denke ich nur Gutes.
Dennoch, und das mag eine der Eigenschaften gewesen sein, die Schostakowitsch zu ihr hinzog, trug sie an ihrer ganz eigenen, gar nicht so versteckten Abweichung – einer harmlosen, um das klarzustellen. (Was die Achmatowa angeht, habe ich es direkter ausgedrückt, aber nur, weil ich die Frau nie mochte.) Im Jahr 1928, als die ersten Raketen
geschosse von unserem Sowjetboden abgefeuert wurden, stand Elena ihrer Schulfreundin Wera Iwanowna unnatürlich nahe. In einem Bericht über die beiden heißt es: Am Hals von Elena Konstantinowskaja fielen uns blaue Flecken auf. Zuerst mochte Elena ihre Herkunft nicht erklären, aber dann sagte sie voller Scham, Wera Iwanowna habe sie im Wald geküsst, was zu den blauen Flecken an ihrem Hals geführt habe.
7 Dieser Vorfall lässt ihre Beziehung zur Frau Lehrerin Ljadowa, die sie übrigens mit den Gedichten der bisexuellen Zwetajewa bekanntmachte, in einem anderen Licht erscheinen.
Nach Wera, ein ganzes Jahr nach ihr sogar, in dem Jahr, in dem Schostakowitsch Nina Warsar heiratete und die Gattin des Genossen Stalin sich erschoss; ein Jahr nachdem Hitlers Nichte sich erschossen hatte und ein Jahr bevor er Reichskanzler wurde, sollte eine internationale Linguistik-Konferenz abgehalten werden, und eine der Delegierten sollte eine deutsche Genossin namens Lina sein, eine Frau mit braunen Augen und braunem Pony, die bei jenem allerersten Mal auf dem weichen roten Lehnsessel eines Hotelzimmers in Leningrad sitzen und sich, Elena im Blick, mit beiden Händen den Kragen ihres Pullovers an die Kehle ziehen würde; die halbe Stunde davor würden Lina und Elena in eine hitzige Diskussion über die beste russische Übersetzung einiger Verse aus dem dreizehnten Jahrhundert versunken gewesen sein: Ihre herrliche Schönheit war Isoldes geheimes Lied, dessen unsichtbare Melodie durch die Fenster ihrer Augen kroch.
8 Vom Pullover abgesehen würde Lina nackt sein, die Knie fast bis an die Schultern hochgezogen, und ihre blassen Schenkel würden
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