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an die Front ziehen. Er trägt wieder Anzug und filmt das Weiße Haus in Washington; man stelle sich vor! Und da sitzt jetzt Fidel Castro lässig hinten in einem Auto und plaudert durch das offene Fenster mit Kindern (das ist eine Szene aus »Flammende Insel«), schlank, grauhaarig und verträumt steht Karmen neben Castro, der sehr revolutionär und dynamisch aussieht; Schwenk auf Kinder, Massen, alte Frauen, Aktivisten, Paraden. Und Irina ist so gutgläubig; sie glaubt sogar, diese Leute seien jetzt, wissen Sie, befreit worden! Weil sie es im Fernsehen gesehen hat! Sie sagt, nur weil ich älter sei, heiße das nicht, dass ich ihr vorschreiben könne, was sie zu denken habe; sie sei so klug wie ich. Was kann ich da noch sagen? Wohl kaum, dass Elena, nun, was weiß denn ich? Er lächelte Irina zu; man darf nicht glauben, er sei, ganz direkt gesagt, undankbar gewesen. Nina hatte nur allzu klar erkannt, dass er mit Elena besser dran gewesen wäre, aber er brachte es nicht fertig, vielleicht gerade weil er dann besser dran gewesen wäre, was er nicht ertragen konnte; er hängte sich an Nina und überredete sie, ihn wieder zurückzunehmen. Er hätte auf sein Herz hören sollen. Und dann hatte Elena gesagt – was hatte sie gesagt? – Begrab mich in Leningrad, sagte er Irina.
Und er erlebte sogar noch das Jahr 1975, als er, zu drei Vierteln gelähmt, unter schrecklichen Schmerzen, mit einem maskenhaften Gesicht, das mehr denn je zitterte und kleine Wellen um sein verwischtes Spiegelbild aussandte, trotzdem noch seine Violinsonate (op. 147) schuf, die er selbst zutreffend als »licht – licht und klar« beschrieb. Einen Monat später erstickte ihn der Lungenkrebs.
Als das Sterben begann, war es, als legte sich ihm ein Schleier nach dem anderen über das Gesicht, jeder ganz durchscheinend, fast durchsichtig, und sie nahmen ihm beinahe zärtlich den Atem, während Irina sich im Krankenzimmer über ihn beugte und seinen Namen schrie wie ein schrill läutendes Telefon. Er hörte sie länger, als er sie sehen konnte, denn es kam ein Schleier nach dem anderen herabgesegelt, so dass ihr Bild zunehmend ergraute und in ein Dunkel sank, tiefer als alle Bedeutung, und obwohl er noch für eine Weile beinahe den Widerschein ih
rer Ausstrahlung auf den mit Nacht geschlagenen Wassern wahrnehmen konnte, schwand sie nun sehr schnell; ja, noch bevor er Zeit hatte, sie mit einer gewissen anderen Frau zu verwechseln, war sie mit nahezu spielerischer Plötzlichkeit fort, so dass er unheilbar einsam in seine samtene Agonie sank, die ihn überflutete und kitzelte, während ihm in immer enger werdenden Kreisen ein blutroter Fleck vor den Augen rotierte.
Zufällig starb E. E. Konstantinowskaja im gleichen Jahr.
Natürlich begruben sie ihn in Moskau. Roman Karmen war dabei und natürlich auch die Gebrüder Glikmann; so wie auch das Mädchen in dem weißen Kittel aus dem Gemüseladen Nummer Einunddreißig. Obwohl man ihm eine Trauerfeier im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums zuteil werden ließ und ihn nicht nur als Komponisten der 7. Sinfonie und des »Gegenplans« rühmte, sondern auch als guten Kommunisten, dürften die »Organe«, deren Musik in Wahrheit gespielt wurde, nicht allzu tief getrauert haben. Binnen zwei Stunden nach seinem Ableben soll eine Abordnung von Männern in himbeerfarbenen Stiefeln in seiner Wohnung gewesen sein; sie tauchten mit einem Armvoll privater Unterlagen wieder auf, die nie wieder gesehen wurden. Die Große Sowjetische Enzyklopädie gewährte ihm einen respektvollen Eintrag, ganz im Einklang mit seinen vielen Ehrentiteln, Orden und Auszeichnungen. (Jeder Stalinpreis wurde taktvoll umbenannt in einen Staatspreis der UdSSR . Ob man ihn wohl jemals aufgefordert hat, die alten Trophäen zum Umgravieren einzureichen?) Seine Werke, erfahren wir, bejahen die Ideale des sowjetischen Humanismus. In dem langen Eintrag zur sowjetischen Musik wird er ein paarmal pflichtschuldig erwähnt. Die 7. Sinfonie wird selbstredend zum unsterblichen Denkmal der Epoche abgestempelt. Selbst sein ungeheuerlichster formalistischer Irrtum, die Oper »Lady Macbeth«, wird nun zum »sowjetischen Klassiker« erhoben. Zweifellos bezieht man sich dabei auf die kastrierte Überarbeitung. Nun, da er tot war, bestand keine Notwendigkeit mehr, ihn zu entehren; was das betraf, war er schon tot gewesen, seit er Opus 110 komponiert hatte.
Man möchte meinen, sein Ruf sei so sicher einbalsamiert gewesen wie Lenin in seinem Mausoleum
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