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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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nur helfen wollen und die …
    Bitte vergib mir, Isaak Dawidowitsch! Oh, ich bin ein Schwein, so ein, ein, ein Schwein! Und deshalb hast du es ihr erzählt, natürlich, natürlich – weil ich wollte , dass du es tust! Wie geht es ihr? Ihr Haar muss inzwischen ganz grau geworden sein. Und dann habe ich – oh, was für ein Arschloch ich bin! Galina hat recht getan, mich nicht zu heiraten!
    Um sie geht es nicht, sagte Glikmann und legte Schostakowitsch eine Hand auf die Schulter; und Schostakowitsch hatte plötzlich das Gefühl, dass er Glikmann mehr liebte als je einen anderen, Mann oder Frau, auf oder unter dieser Erde, und Glikmann wiederholte sanft: Um sie geht es nicht. Galina Ustwolskaja ist nicht die Frau, die du liebst.
    Schostakowitsch erlebte noch das Jahr 1970 und veröffentlichte einen Aufsatz unter der Überschrift »Lenins Leben, unsere Inspiration«. Außerdem komponierte er Opus 139, »Marsch der Sowjetpolizei«. Nun ja, warum den Fortschritt überholen? Es ist besser, einfach, Sie wissen schon. Aber Irina war weiter so lieb. Der stille Takt der Frau, die auf der Bank neben dem Konzertpianisten saß, immer im richtigen Augen
blick die Seiten umblätterte und ansonsten eigentlich gar nicht richtig da war, so könnte man Irina in ihrer großen Aufopferungsbereitschaft beschreiben; womit hatte er sie nur verdient?
    Er wusste, dass er ihr Verderben war, so wie er Tatjanas, Elenas, Ninas und Galinas Verderben gewesen war; er war eine vergiftete Bombe, die alle tötete; die arme, müde Ninuscha hatte das meiste abbekommen, weil sie am längsten mit ihm gelebt hatte. Und dann hatte er … Was für ein Glück für dich, dass du mich nicht geheiratet hast, Elena. Ist die Umblätterin nicht im Grunde genauso wichtig wie der Konzertpianist? Zuerst einmal muss sie Noten lesen können, in unseren Zeiten eine beträchtliche Leistung. Wichtiger noch, sie leistet mir Gesellschaft, kennt mich und muntert mich auf. Sie hält mir den Schwarm der Sorgen des Opus 110 vom … ich, ich, die Dinge, die tief unten in den Massengräbern wachsen! Und dann … Durch das große Ziegeltor führen die Eisenbahnschienen zu einem Wäldchen hin. Ich glaube, das ist die Gaskammer. Wachtürme aus Holz, endlose Reihen ockerfarbener Ziegelbaracken, die Überreste von Schloten im Gras, das ist meine Musik. Lange Akkordreihen, ein Block aus Tannenholz nach dem anderen, niedrig und langgestreckt mit steileren, schwärzer gedeckten Akkorden zur Rechten, alles zielt auf dieselbe Art Gefühl ab – Sie wissen schon, das Gefühl von … Aber wenn sie mich in den Armen hält, ist das Unternehmen Barbarossa nie gewesen! Na, bin ich nicht widerlich, dass ich ableugnen will, dass …? Wissen Sie noch, wie die amerikanischen Jagdbomber für die dritte Angriffswelle nach Dresden zurückkehrten und aus ihren Maschinengewehren auf die Frauen und Kinder im Gras feuerten? Apropos zerhackte melodische Bögen! Die Amerikaner hätten, na ja … Selbst das haben manche überlebt. Ich frage mich, wer die Glücklicheren waren. Wir können alle hoffen zu, zu, sozusagen, überleben. Und ich meinesteils, obwohl ich große Angst habe, ich …
    Die Zeit verging, und er erlebte noch das Jahr 1972 und die Uraufführung seiner 15. Sinfonie; seiner Gebrechlichkeit zum Trotz erwarteten sie noch immer, dass er seine Quote an Sinfonien erfüllte, genau wie sie damals verlangt hatten, der NKWD -Chef einer beliebigen Stadt habe zehntausend Volksfeinde auf einmal und ausnahmslos zu erschießen. Leider war die Fünfzehnte nicht mehr als ein müdes Rückzugsgefecht, ein Aushalten hinter den feindlichen Linien. Manch ein Akkord war
von Wagner geborgt, von Prokofjew, Mussorgski und einem gewissen D. D. Schostakowitsch. Im Ganzen war sie so grau wie Tuchatschewskis Augen, so weiß wie Glikmanns Absichten, so sauber wie Ninas Fingernägel und so einsam wie Irinas, Sie wissen schon. Siehst du, Elena, was für ein Glück es ist, dass, nun ja. Früher war ich, wie soll ich sagen? Eingebildet. Und heute, wenn ich ein dummes Lachen höre, besonders das eines Mannes, denn Frauen sind, nun ja, dann kann ich kaum, kaum … Sie lobten ihre Banalität und es klang ihm in den Ohren wider. Immer erwartete er, in der letzten Reihe den Genossen Stalin zu sehen oder Schukow oder Chrennikow oder sonst jemanden, der unerschütterlich entschlossen war, den vor uns liegenden Weg mit einem Suchscheinwerfer auszuleuchten. Was unsere unerschütterlichen Verbündeten in Ostdeutschland anging,

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