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(Stalin hat man, wie ich zugeben muss, insgeheim entfernt, als sein Ruhm verwest war). Aber vielleicht war das Regime seiner formalistischen Untreue wegen doch ein wenig verbittert. Vielleicht bilde ich mir das ein. Jedenfalls verzeichnet The
Soviet Way of Life , erschienen im Jahr vor seinem Hinscheiden, die interessanten Resultate eine Umfrage in Industrieunternehmen im Ural. Die Arbeiter wurden gebeten, ihre Lieblingskünstler zu nennen. Unter den Komponisten wird Tschaikowski als erster genannt, Mussorgski als letzter, mit ein paar Ausländern dazwischen. Dimitri Dimitrijewitsch Schostakowitsch taucht nicht auf.
92 Schließlich gibt es kein Individuum, das in unserer Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken unersetzlich wäre, diesem ruhmreichsten und vollkommensten Land der Welt, das an zwölf Meere grenzt.
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[ 41 ] Dessen drei letzte Noten, angestrengt, plötzlich und unheilvoll, erinnern gleichermaßen an das dreifache Klopfen mit den Fingerknöcheln, mit dem Russen einander an öffentlichen Orten vor dem Auftauchen eines bekannten Polizeispitzels warnen, und das dreimalige kurze Entwarnungsheulen, das gute Deutsche in seltsamer Umkehrung der üblichen Verwendung dazu mahnt, sich auf einen möglichen Luftangriff vorzubereiten.
[ 42 ] Das Wort, das in der »Lady Macbeth« in Wahrheit noch wichtiger ist als das laszive verspeichelte zeluj, küss mich, ist – Langeweile.
[ 43 ] Hier ist eine Fußnote zu Ehren der dunklen Eleganz des Dichters von »Babi Jar« vonnöten, der gern mit einer aufs Herz gelegten Hand für die Fotografen posierte, Schostakowitsch ängstlich lächelnd neben sich.
[ 44 ] »Doch ich kann bezeugen, daß von meinen Bekannten keiner gekämpft hat«, schreibt Nadeschda Mandelstam, »alle haben nur versucht, nicht aufzufallen. Das war auch das einzige, was Menschen, die noch ein Gewissen hatten, überhaupt tun konnten – und schon dazu gehörte wirklich Mut.«
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Ein Pianist aus Kilgore
Weh tut es Ihnen bestimmt nicht, wozu regen Sie sich auf? Sie sind eh ein Skelett, und einem Skelett tut nichts weh.
– Jakov Lind, »Eine Seele aus Holz« (1962)
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Im Jahr 1958, dem Jahr nach dem Stapellauf des atomgetriebenen Eisbrechers »Lenin« , wurde in der UdSSR ein Musikwettbewerb abgehalten. Unter den Glücksspielern befand sich ein junger Amerikaner aus Kilgore, Texas, namens Van Cliburn.
Sein Spiel war so makellos wie der rostfreie Stahl aus den Metallurgiewerken »Krasnyj Oktjabr« in Stalingrad (heute natürlich als Metallurgiewerke »Krasnyj Oktjabr« in Wolgograd bekannt). Und falls Sie den Grad dieser Makellosigkeit genau wissen wollen, muss ich nichts weiter sagen, als dass der Fabrik 1939 der Leninorden verliehen wurde und 1948 der Orden des Roten Banners der Arbeit. Hätte er da den Ersten Preis etwa nicht verdient gehabt? Allerdings, dank des Großmacht-Chauvinismus der Anglo-Amerikaner hatte sich ein sogenannter »Kalter Krieg« entsponnen. (Worum handelt es sich eigentlich bei einem kalten Krieg? Wir Russen kennen uns da aus. Das ist ein gefallener Soldat, der mit dem Kopf voran im Schnee festgefroren ist. Lässt sich das am Flügel zum Ausdruck bringen? Ja, unter Van Cliburns Händen schienen die Klaviertasten manchmal aus Eis zu bestehen, manchmal aus Stahl und manchmal aus duftendem Karamell. Und die Noten zogen vorüber wie Sommerwolken.) Jene, die mit fadenscheiniger »Objektivität« einzuwerfen wagen, die Lorbeeren gebührten einem Provinzlakaien der Bourgeoisie, nur weil das Moskauer Publikum Erster Preis, Erster Preis und Vanjuscha, Vanjuscha0 ! skandiert, argumentieren an der Sache vorbei: Der Sinn von Wettbewerben liegt nicht in der Belohnung individueller »Verdienste«, sondern in der Erziehung der Massen. Unsere Sowjetunion muss an der Kulturfront als Sieger dastehen! Außerdem konnten manche Juroren und Zuschauer nur mit Abscheu auf die Art reagieren, wie der junge Freund sich über den Flügel krümmte, den Hals im weißen Kragen fast waagerecht, denn der Mann maß volle
einhundertdreiundneunzig Zentimeter; er musste den Klavierhocker zurückschieben; D. D. Schostakowitsch zum Beispiel erinnerte er an den alten Stich eines Rennpferdes, das sich nervös in der Startmaschine herumwirft – was nicht heißen soll, Cliburns Interpretation des Concertos hätte je nervös geklungen. Die beinahe militärische Strenge und Grandezza des Anfangs wurden ebenso kontrolliert umgesetzt wie damals in Stalingrad die Operation »Kleiner Saturn«. Das andantino
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