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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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simpatico des Zweiten Satzes »floss« in Strukturen dahin, launenhaft und völlig korrekt zugleich; erst glitzerte der Fluss wie eingefroren, wie eine ungeheure Dusche aus Kristallen, dann flatterte er federleicht auf etwas hin, das für jeden Zuhörer so köstlich unerreichbar war wie das Glück eines kleinen Kindes. Wäre es nicht traurig, wenn wir solches Glück tatsächlich empfinden könnten? Van Cliburn lächelte in einem fort, als könnte er es. Er war von leisem Auftreten, aber nie schlecht gelaunt; gekleidet in tiefdunklen, respektvollen Anstand, betont durch die weißen Streifen von Hemdsärmeln und -kragen; er war offenbar ein Unschuldslamm. Schließlich war er Amerikaner, und außerdem war er zu spät geboren, um im Krieg eingezogen zu werden. (Gut, wirklich sehr gut, sagte der Juror Oborin, aber, wissen Sie, er wackelt so viel mit dem Kopf, so gefühlig …
2  – Drei Tage später erschien derselbe Oborin auf einem Foto in der New York Times, wie er lächelnd die Hand des hochgewachsenen, müden Amerikaners packte.) – Ohne Frage: Cliburn war ein Milchbart, völlig unbeleckt, ein Pianist aus Kilgore, Texas … Deshalb und aus anderen Gründen verschworen sich einige selbstlose Funktionäre, die Goldmedaille, zu der sich noch ein Preisgeld von fünfundzwanzigtausend Rubeln in bar gesellte, einem der drei sowjetischen Teilnehmer zuzusprechen oder, wenn das nicht gelang, dem Pianisten aus der Volksrepublik China (mit der wir damals noch nicht über Kreuz waren); aber der ehrenwerte Juror S. Richter forderte, diese Fraktion müsse überstimmt werden, und zwar wegen der Art, so glaube ich, wie Cliburn den dritten Satz spielte, das Allegro con fuoco: Er begann mit vollendeter Unparteilichkeit (kalt in der Ausführung, mit Wärme in der Auffassung), dann ergriff plötzlich eine Leidenschaft vom Flügel Besitz, die sich mit Glissandi einer anderen Art von Unparteilichkeit abwechselte wie kleine Wellen auf einem sonnenbeschienenen arktischen See; dann kam die atemlose erotische Hast des Finales, das jedoch in der Ausführung immer klar
und sorgfältig blieb, wie unter der bedächtigen Hand eines Liebenden.
    So weit der Tschaikowski. Cliburn legte eine Pause ein. Seine Hände hingen mit der gleichen einsamen Anspannung über den Tasten, wie sie die Piloten von Aufklärungsflugzeugen befällt, wenn sie über Feindesland brummen und die Koordinaten von Eisenbahndepots, Kathedralen und Wohnblöcken aufnehmen, um den Bombenschützen die Arbeit zu erleichtern. Langsam schlich sich ihm ein verzücktes Lächeln ins Gesicht. Seine Hände sanken nieder. Er begann mit dem Rachmaninow. Die Juroren schlossen träumerisch die Augen. Das Publikum weinte. Ein Apparatschik eilte ans Telefon. Binnen zwanzig Minuten hatten Milizionäre das Tschaikowski-Konservatorium umstellt und hielten die Massen der schmachtenden Bewunderer auf Abstand. Was für ein Debakel! Am Ende musste jemand beim Genossen Chruschtschow persönlich anrufen. Da wurde die Sache zugunsten des Amerikaners entschieden, wohl weil kalkulierte Edelmütigkeit die am wenigsten peinliche Haltung war. Schließlich hatten selbst die Juroren applaudiert! Die Bravorufe währten acht Minuten. E. Gilels und K. P. Kondraschin schlossen Cliburn in die Arme … – Man schrieb den 11. April – eben jenen Tag, als wir, im Kontrast zur amerikanischen Kriegstreiberei, einundvierzigtausend Soldaten aus Ostdeutschland abzogen. Nicht lange nach Mitternacht kamen die sechzehn Mitglieder der Jury zu einer Einigung (was heißen soll, dass sie über die Entscheidung des Genossen Chruschtschow in Kenntnis gesetzt wurden). Am dreizehnten verkündete ein Lautsprecher: Harvey Lavan Cliburn Jr. Die Menge schrie: Vanjitschka, Vanjitschka!
    Ojemine, sagte Schostakowitsch. Er war durchaus überrascht, denn was sie zur Publikation unter seinem Namen vorbereitet hatten, besang den »jüngsten sowjetischen Sieg«. Es war schon ans Licht gekommen, dass Cliburns Vater Mietling eines Ölkonzerns war und dass dem Sohn die Reise von einer Deckorganisation des internationalen Kapitalisten Rockefeller bezahlt worden war.
3
    Mitja, bitte entspanne dich, sagte Oborin. Das ist nicht dein Problem. Sie lassen dich etwas anderes unterschreiben. Wenigstens hat er russische Musik gespielt …
    Du hast ganz recht!, erwiderte der Komponist erleichtert. Ojemine, ojemine …
    Er vertraute Oborin, weil er ihn schon lange kannte. Sie waren beide gemeinsam aus dem belagerten Leningrad evakuiert worden, auf

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