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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sie nannten sie seltsam zurückhaltend und introvertiert.
87 Er konnte sich nicht konzentrieren; seine Lippen zitterten; der Mantel rutschte ihm vom Schoß, und Irina hob ihn wieder auf. Der Suchscheinwerfer hat mich erfasst; wie gruselig! Seine Brillengläser waren nun so groß wie Ziffernblätter. Sie warfen das weiße Licht zurück, so dass die Menschen seinen Blick oft nicht mehr recht deuten konnten – danke, danke! Steif saß er da und verzog das Gesicht, die nutzlosen Hände hingen ihm am Körper herab. Warum sie nicht abschneiden? Dann würde ich auf dieser Welt nicht so viel Platz einnehmen! Dann könnte ich mich vor dem Genossen Alexandrow verstecken, der mich nicht in Ruhe lassen will; er ist immer in der Nähe mit seinen … Ihm fiel wieder der Akkord der Schreie aus dem Kinderkrankenhaus ein, das von einer Ölbombe der deutschen Faschisten getroffen worden war, und er merkte, dass er vergessen hatte, den Klang in sein Opus 110 zu packen. Nun, nun! Soll ich es umschreiben? Es würde sich so einfach zerlegen lassen wie eine Nazi-Pistole, jeder Satz schwarz und silbern. Und dann dieser eine Laut – was ist das für ein Laut? Weil … Er quälte sich auf die Beine, um sich wie üblich bei den Musikern zu bedanken, und musste erleben, wie mehrere schaudernd vor seiner entstellten Hand zurückwichen. Genosse Schostakowitsch nannten sie ihn höhnisch. Sein Herz raste so höllisch wie der zweite Satz des Opus 110. Aber am Tag darauf lud eine amerikanische Bewunderin ihn auf ein Frühstück zu zweit zu sich in die Wohnung ein, nicht weit von jenem Ort, an dem früher das Kinderheim »Spartak« gestanden hatte. Wie sie hieß? Es war ein, sozusagen, amerikanischer Name. Sein Erinnerungs
vermögen war nicht immer … Sie sagte ihm, seine Fünfzehnte sei brillant, und er dachte bei sich: Wenn ich auch nur fünfzehn Takte jünger wäre, hätte ich, ich hätte, nun ja. Rechnen wir mal: Vor fünfzehn Jahren war Nina eben gestorben, und Elena wäre dann dreiundvierzig gewesen. Wann hatte dieser Vigodski sie geheiratet? Nach dem Krieg; das muss nach dem Krieg gewesen sein. Sie wäre damals noch nicht zu alt gewesen, um zu, zu, wie soll ich sagen, aber man denkt besser nicht darüber nach, weil, jedenfalls, mit den meisten Begegnungen geht es so. Außerdem, um meiner sogenannten »Gesundheit« willen … Er konnte sich noch an die Schreie erinnern, die Elena früher ausstieß: erst appassionato, fast con dolore, dann morendo, dann, nach langer starrer Stille mit vor Glück verzückter Miene, zum Finale con brio, nicht explosiv wie bei so vielen anderen Frauen, sondern ruhig und unaufhaltsam wie eine Rakete, die auf ihrer eigenen Flamme reitet, mit geradezu übermenschlichem Glanz; daher der weiche, schrille Einsatz des Cellobogens im zweiten Satz des Opus 40; da hatte er zum ersten Mal begriffen, wie hoch sie über allen anderen stand. Nun, das war vorüber. Die Waffeln, die die Amerikanerin gebacken hatte (sie schien an krankhafter infantiler Linksabweichung zu leiden) erinnerten ihn an vom Krieg skelettierte Gebäude. Es war alles eine Frage des Maßstabs. Anstelle verkohlter leerer Steinkisten, die einmal Zimmer gewesen waren, blickten eckige Wannen aus goldener Stärke zu ihm auf, schimmernd von flüssiger Butter und Ahornsirup, importiert aus dem fernen Kanada!
    Danke, danke, meine liebe Dame, sagte er, und nun muss ich gehen, weil ich mich wirklich nicht wohl fühle, verstehen Sie … Und er fühlte sich wirklich nicht wohl. Ich bin sogar so schwach, dass ich, wenn Elena mein wäre, vor Glück tot umfallen würde.
    Irina hatte eine Reise nach Leningrad vorgeschlagen, damit er die Stadt noch einmal sähe. Und wahrscheinlich hätte er fahren sollen; Leningrad bestimmte ihn so sehr wie das Opus 110; Glikmanns Bruder Gawril, den die Skulptur des »Apoll Schostakowitsch« schon berühmt gemacht hatte, würde bald vorschlagen, ihm kleine Steine aus Leningrad aufs Grab zu legen, umgeben von eisernem Gestänge (meine Idee gefiel Irina Antonowna sowie den anderen sehr gut) ;
88 wir sind uns alle sicher, eine Besichtigung des sozialistischen Wiederaufbaus dieser Metropole hätte ihm Kraft gegeben. Irina hätte einen Schaufensterbummel auf dem Newski-Prospekt gemacht; jemand hatte ihr erzählt (ich glau
be, es war die Sängerin G. P. Wischnewskaja), es gebe dort einige Damenschneider, die fast so raffiniert seien wie die in Paris; und ihr Kleinmädchen-Blick, als sie es vorschlug, voller Vorfreude, machte ihm klar,

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