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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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dass sie schon lange nicht mehr richtig glücklich gewesen war und sich nach einer Vergnügung sehnte, wie banal sie auch sein mochte; dieses Verlangen nach Unterhaltung war es, das ihre Augen so heftig zum Ausdruck brachten; und genau das war es, was ihn so, wie soll ich sagen, aufregte, weil er auch auf diesem Gebiet impotent war. Sie wollte, äh, also wirklich, ausgerechnet der Newski! Nicht lange vor der Oktoberrevolution erklärte der symbolistische Schriftsteller Belyj: Ganz Petersburg ist die Unendlichkeit des in die n-te Dimension erhobenen Prospekts. Hinter Petersburg jedoch ist nichts.
89 Nichts als Panzer, heißt das, T-26er, T-34er und fünfundvierzig Tonnen schwere T-Vs … Ach je, er konnte sich recht gut erinnern, wirklich sehr, Sie wissen schon, danke, die ganzen Leichen mit den zurückgeworfenen Köpfen, die wie Herbstlaub über den Newski-Prospekt wehten, und die erdgleichen Gesichter der Lebenden und der abgerissene Arm, der am Gartentor hing;
90 ich hätte gedacht, meine Galischa sei zu jung gewesen, um sich zu erinnern, aber sie hat sogar heute noch Alpträume; es wird sie wohl bis zu ihrem Tode quälen.Und dieses Kind, das er geheiratet hatte, war völlig ahnungslos! Sie war einfach zu jung. Er konnte sich noch besonders gut an das große Bündel Geschützrohre erinnern, die in R. L. Karmens Film »Leningrad im Kampf« in den Himmel zielten, Rauch verhüllte den Smolnykonvent. Natürlich war er damals mit seiner Familie schon in Kuibyschew gewesen. Karmen verdiente Bewunderung für seine, Sie wissen schon. Und jetzt, da er es keuchend in die Aufrechte geschafft hatte, damit er streng über ihr stehen konnte wie jenes Leninstandbild, das die ganzen Neunhundert Tage hindurch vor dem erhöhten Säulenvorbau des Smolny blieb, merkte Irina langsam, dass sie ihn wieder einmal beleidigt hatte, und ihr Gesicht lief rot an, während er schimpfte: Ich, ich habe früher durch ein schartiges Loch auf den Newski gespäht! Und das Geräusch dieser anfliegenden Stukas, reines Vibrato, ich, ich …
    Und lass mich mal raten, unterbrach seine Frau ihn und erhob sich ebenfalls. Sie stand neben dir.
    Nein!, rief er, und der Schreck riss ihn aus seinem Zorn. Keine Angst, keine Angst; das ist alles Quatsch. Ich war nicht einmal …
    Bestimmt nackt. Na, du hattest damals bestimmt deine romantischen Momente, du konntest ja auch noch …
    Heiser bettelte er: Sei nicht grausam, Irina!
    Es tut mir leid! Vergib mir, Mitja. Ich hatte einen Eifersuchtsanfall, das ist alles.
    Ich …
    Egal. Schon vorbei. Bitte vergib mir doch. Wir fahren nicht nach Leningrad.
    Er erlebte noch das Jahr 1973 und unterzeichnete einen offenen Brief, der in der Prawda veröffentlicht wurde und den Menschenrechtsaktivisten A. Sacharow angriff. Dieser Akt der Unterwürfigkeit kostete ihn einige seiner noch verbliebenen Freunde. [ 44 ] Der Avantgardist J. P. Ljubimow, dem gegenüber er sich immer großzügig gezeigt hatte, weigerte sich fortan, ihn zu grüßen. Na und? Sagen Sie es den grinsenden Jungs von der Legion Condor! Sein Ruhm war ausgeprägt, ohne jede Wärme, wie arktisches Sonnenlicht auf einem Pflaster aus Soldatenhelmen.
    Er erlebte noch das Jahr 1974 und schrieb die aufsehenerregende Michelangelo-Suite, deren Lieder so schön sind wie ein Schwarm kunterbunter Jagdflugzeuge. Es war nun genau vierzig Jahre her, dass er sein Klavierkonzert auf jenem internationalen Musikfestival in Leningrad gespielt hatte und eine gewisse zwanzigjährige Studentin ihm einen mit ihren Initialen E. E. K. gezeichneten Zettel zugespielt hatte. In Wahrheit war es Nina, die die Scheidung gewollt hatte. Und Irina hatte bestimmt auch, wissen Sie, aber Irina war praktisch so alt wie seine Tochter; sie wusste nicht, was sie, egal, es gab Zeiten, da legte sie einen Arm um ihn, und er lachte bei sich: Sie glaubt, sie umarmt mich, aber sie umarmt nur meinen Mantel! Irina legte ihre Hand auf seine Finger, die waren so weich, fett und weiß wie Friedhofsbeeren. Und wo er auch hinblickte, immer sah er, Sie wissen schon. Zum Beispiel, und das ist nur ein Beispiel von vielen, kam jedes Mal, wenn Irina den Fernseher einschaltete, wieder eine Sendung von Roman Karmen über den Bru
derkampf in Lateinamerika, und Sie wissen ja, was er für den lieben, lieben Roman Lasarewitsch übrig hatte! Ich möchte mal wissen, wie oft der wohl geküsst wird. Gesundheitlich geht es ihm noch gut, höre ich. Drei Mal sollen unsere russischen Frauen uns zum Abschied küssen, wenn wir

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