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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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jener langen, langen Zugfahrt, die sie nie vergessen konnten, weil sie immer wieder vom Vibrato der faschistischen Bomber begleitet worden war.
    Außerdem, fuhr Oborin fort, hat nicht nur der kleine Cliburn gut gespielt. Das Radiosinfonieorchester hat sich wirklich selbst übertroffen …
    Was denkst du wirklich, Lew? Ehrlich gesagt, ich habe beim Rachmaninow nicht richtig zugehört, weil mein Sohn …
    Nun, da muss ich sagen, das Tschaikowski-Konzert war so grandios, wie das bei Tschaikowski nur geht, auch wenn in der Jury die meisten den Rachmaninow vorgezogen haben, den ich ein wenig zuckrig fand. Vielleicht hat er beim Rubato ein bisschen dick aufgetragen … nein, ich bin bloß neidisch. Der Junge ist ein Meister.
    Was du nicht sagst!, murmelte Schostakowitsch und spielte mit seinen Fingern. Wer hätte das gedacht? Nun, nun, nun. Ein Amerikanerjunge aus Kilgore, Texas. Man stelle sich vor.
    Am achtzehnten absolvierte Van Cliburn seinen ersten öffentlichen Auftritt als Sieger. (Unterdessen feuerte die US -Marine aus einem getauchten U-Boot eine Polaris-Testrakete ab.) Er hob die Hände, blickte verträumt auf seine ausgestreckten Finger herab, als sähe er sie zum ersten Mal, und wiederholte das Tschaikowski-Konzert, das die New York Times, sprachlich noch immer dem Krieg verhaftet, als einen perkussiven Großangriff beschrieb , der das Orchester dominierte .
4 Es stimmt zwar, dass er den ersten Satz mit laut dröhnenden Akkorden aufpeppte, deren metronomartige Stetigkeit die romantische Wärme der Streicher erdrückte, aber eine Kriegsmaschine war er nicht. Seine lautesten Hammerschläge blieben doch irgendwie glockenartig, kontrolliert. Außerdem machte der Donner des Anfangs bald kristallklaren Arpeggios Platz, in denen jede Note so klar wie ein Eiskristall glitzerte. Wann immer die Partitur es zuließ, wurde Cliburns Anschlag noch sanfter, zögerte ein wenig, abweichend von der anfänglichen strengen Süße, selbstbewusst genug, dem Orchester einen Platz an der Sonne zu schenken, und manchmal folgte er dessen Führung, manchmal führte er es, wie ein Paartänzer mit guten Manieren. Oh, sein Spiel war immer klar; jede seiner Noten war aus Glas. Der Applaus war ekstatisch. Dann wieder
holte er den Rachmaninow. – Wieder Ovationen! Als Zugabe spielte er eine eigene Komposition, »Nostalgia«.
    Und so kam der Augenblick, da Schostakowitsch ihm gegenübertreten musste, auf dem Bankett zu Van Cliburns Ehren. Wenn man es sich recht überlegte, war er ihm schon zwei Mal begegnet, das erste Mal bei der Eröffnungsfeier, dann bei der Preisverleihung, denn, sollte ich versäumt haben, das zu erwähnen, Schostakowitsch war Vorsitzender des Organisationskomitees dieses Ersten Internationalen Tschaikowski-Wettbewerbs (seine Berufung unterstrich die Zuversicht der Partei, man werde seine Rehabilitierung nie bedauern müssen), und so war am Ende er es, der auf dem Podium stehen und Van Cliburn loben musste, er war es, der dem Jungen auch die Medaille und den Umschlag mit dem Bargeld in das verschwitzte Händchen legte, während die Blitzlichter der Reporter losgingen wie Flak-Geschosse. Um die Wahrheit zu sagen, Cliburn interessierte ihn weniger als die hübsche Violinistin aus Wolgograd am anderen Ende des Tisches. Ihre Lippen hatten etwas – nun, richtig jung war sie nicht mehr, aber Schostakowitsch kam inzwischen jede Frau wie eine Jungfrau vor, oder fast jede. Er konnte es gar nicht fassen, wie mädchenhaft die Vierzigjährigen inzwischen aussahen. Gestern hatte er mit E. W. Denissow darüber geplaudert, was das Gesicht eines echten russischen Mädchens ausmache: hübsch vorstehende Wangenknochen, in der Jugend jedenfalls (oder lag das nur daran, dass russische Kinder bis vor Kurzem nie genug zu essen bekommen hatten?); Denissow, von diesem Thema weniger bezaubert, weil er mehr mit dem neuen Dekret des Zentralkomitees über die Korrektur von Irrtümern beschäftigt war, gähnte, öffnete beide Flügel und schloss sie wieder, aß einen Hering und lenkte das Gespräch auf die schlechte Haut vieler russischer Frauen, aber Schostakowitsch parierte mit einer Lobrede auf die Weizenfelder aus blondem oder braunem oder schwarzem Haar, ganz abgesehen von den dunklen Augenbrauen, die so gut zu blassen Händen passten (nicht sehr proletarisch!, lachte Denissow).
    Sie hatten Van Cliburn eine Dolmetscherin von geradezu einschüchternder Schönheit beigesellt. Aber Schostakowitsch fiel auf, dass die beiden kaum einen Blick

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