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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Schlafwandler einmal einem schlanken blonden Mädchen namens Stefanie Jansten einen Hymnus an die Geliebte schrieb, aber nie ein Wort zu ihr sagte. (Genau so verliebten sich auch unsere Helden aus alter Zeit. Siegfried und Gunnar hatten die Prinzessinen, nach denen sie schmachteten, noch nicht einmal gesehen.)
6 Blond, das wohl! Ach, sie war so blond wie der Rauch, der nun über allen Synagogen aufsteigt! Manchmal war der Schlafwandler zum Selbstmord entschlossen gewesen; stundenlang konnte er in dieser Stimmung verharren, das Problem war nur, dass Stefanie bereit sein sollte, mit ihm gemeinsam zu sterben
    Fackelschein erhellt die Bühne, flackernde Säulen aus Licht. Wenn der Schlafwandler brüllt, brüllen und donnern sie, ihre Arme schießen auf und nieder, während seine schneidigen Jungen die Trommeln schlagen. Ob der Schlafwandler spricht oder Siegfried singt; den in Auf
merksamkeit erstarrten Gesichtern ist es eins. Licht erhellt seine Wangen.
    8
    1941 greift er das verbündete Russland an. Krieg an allen Fronten! Nun ist Deutschland sicher von einem Feuerwall umfangen! Wie lange wird es dauern, dieses Imperium auf ein Stück Dreck unter seinem Stiefel zu reduzieren? Drei Wochen wahrscheinlich, aber manchmal lassen sich die Dinge auf dieser Erde nicht so exakt bemessen. Die Aufführung des »Rheingolds« in Bayreuth war zum Beispiel nach zweieinviertel Stunden vorüber, aber gelegentlich dauert sie drei.
    Für diesen Russlandfeldzug wählt er ein paar Takte aus den Préludes von Liszt aus, die als Siegesfanfare im Radio gespielt werden sollen.
    9
    Der Schlafwandler lächelt charmant, während er mit beiden Händen das Handgelenk der Wagnerenkelin Verena umfasst.
    Ja, Onkel Wolf. Ich werde dafür sorgen, dass dich niemand stört.
    Er betritt seine Privatloge ganz hinten. Er blickt auf die leeren Stühle hinab, die an die Tastatur einer riesigen Schreibmaschine erinnern, mit der er jede gewünschte Partitur komponieren könnte.
    Ich werde nicht zulassen, dass dieser Krieg mich daran hindert, meine Ziele zu verfolgen, flüstert er sich zu.
    Russland stirbt nicht. Russland geht auf ihn los wie der Lindwurm, der sich beim Weltuntergang erheben wird, Leichen in den Klauen. Die Fremden haben ihn hereingelegt, wie er es vorausgesehen hatte. Aber er hat den Kelch der Verheißung erhoben. Es gibt kein Zurück.
    10
    Wieder bittet ein Schwächling, ein kleiner Drückeberger, Bericht erstatten zu dürfen. Mit Zorn in den Augen blickt der Schlafwandler ihn an.
    Der Defätist beklagt sich über gewisse drastische Maßnahmen. Was für ein Unglücksrabe! Er krächzt und krächzt. (Müssen im Ring nicht
selbst Götter den zwergenhaften jüdischen Kapitalisten austricksen, ihn sogar berauben, um die Welt zu retten?) Der Schlafwandler starrt ihn nieder, aber der Drückeberger will nicht weichen. Wo ist Keitel? Jodl? Jemand muss ihn hinausweisen! Auf dem Konferenztisch der Wolfsschanze breitet der Defätist Aufnahmen hungernder Menschen auf den Straßen des Warschauer Ghettos aus, von Kindergesichtern, weinenden Totenschädeln gleich, bewegungslosen Körpern auf dem Pflaster, bleich, dürren Gestalten, die sich auf Strohlagern zusammendrängen.
    Eine Schreibkraft ringt nach Luft.
    Der Schlafwandler wirbelt herum und küsst ihr die Hand. – Vergessen Sie das, mein Kind, tröstet er sie. Sie lächelt, läuft hinaus.
    Der Defätist jammert immer weiter. Er ist sich sicher, man habe den Führer über die Angelegenheit im Unklaren gelassen. Natürlich sind die Juden unser Unglück, aber das …
    Und der Schlafwandler? Er schnipst mit dem Daumennagel auf eine der Aufnahmen. Sein Mund wird schmal.
    11
    Wieder besteht ein General darauf, ihn zu stören, mit schlechten Nachrichten vom russischen Vormarsch. Er spricht von einer immer schwierigeren Lage an der gesamten Front.
    Soll sie doch schwieriger werden!, zürnt er. Um so besser für mich!
    Ja, mein Führer. Aber unsere Truppen erfrieren. Erst gestern habe ich gesehen, wie …
    Der Schlafwandler hält sich die Ohren zu. – Vielleicht bin ich zu empfindsam, antwortet er.
    12
    Die Arbeiter haben sich zu rechteckigen Armeen vor ihm aufgestellt. In Reih und Glied marschieren Hakenkreuzstandarten in einen tiefen Brunnenschacht hinab, in Richtung Zukunft. Sie brüllen; er wartet, säuerlich und ausdruckslos. Lange vor der ersten Nacht der langen Messer von 1934 haben sie ihn auf das Podium der Vorsehung treten sehen, auf ein riesiges Podium mit einem Hakenkreuz an der Wand zu
seinen

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