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wird. Im bleichen, stummen Antlitz des Schlafwandlers, der sein Handgelenk umklammert hält, während er die Ehrbezeugungen zu seinem fünfzigsten Geburtstag erduldet und vom schnarrenden Rauschen eines endlosen Jubels trinkt, suchen sie sich selbst.
7
Am 23.7.40 trifft er Kubizek in Bayreuth. Kubizek ist sein alter Freund aus Studententagen (wenn wir ihm zubilligen wollen, dass er überhaupt Freunde hatte). Nach zweimaliger Ablehnung durch die Kunstakademie hatte er sich von dem von der Vorsehung weniger auserwählten Jungen fortgestohlen und war auf die Walz gegangen. Jahre hatte er
dann gefangen unter dem Schalldeckel verbracht! Das Leben hatte ihm kein Gefühl für Größenunterschiede mitgegeben; er hätte ein Riese oder ein Zwerg sein können, je nach Größe der Bäume auf den gemalten Kulissen, in denen die Fremden, richtige Menschen, hoch über seinem Kopf applaudierten. Aber dann erklang ein magischer Trommelwirbel; und plötzlich wurde unser Schlafwandler zu einem der Soldaten, die 1914 aus dem Fenstern der Truppentransportzüge winkten, und sehr bald fand er sich in verzweifeltem Lauf durch verwinkelte Schützengräben wieder, auf der Flucht vor dem Gas, gegen das die über die Münder gebundenen Taschentücher viel weniger ausrichten konnten als Gunnars Harfe gegen die Schlangen. Da hatte Kubizek ihn vielleicht bewundert, denn er hatte sich ausgezeichnet, aber … Gut, da er nun der Führer ist, muss er sich für nichts mehr schämen. Wieder winken die Soldaten aus den Zügen. Ein riesiges Hakenkreuz hing über ihm, seit er rechtmäßiger Diktator geworden war.
Er hat schon versprochen, die künstlerische Ausbildung von Kubizeks Kindern auf Staatskosten zu unterstützen. Ganz rührend hat er sich gekümmert, o ja. Sogar Eintrittskarten für den Ring hat er Kubizek geschickt.
Das »Rheingold« ist ihm die liebste dieser vier Opern. (Die Zwerge sind hungernde jüdische Kinder mit müden, alten Gesichtern und Männer mit bleistiftdünnen Armen.) Ob es wohl seine Liebe für die Musik ist, die ihn so tief verzaubert, dass er sich hier kaum noch richtig an Kubizek erinnert? Die Leistungen der Regie beschäftigen ihn wirklich sehr.
4 Als Nächstes ist die »Walküre« an der Reihe, da darf die eigensinnige jungfräuliche Heldin zur Feuerzauber-Musik ruhig einschlafen, hinter einem sicheren Wall aus Suchscheinwerferstrahlen, die wie Flammen in den Trümmern französischer und belgischer Häuser lodern, wo weinende, gestikulierende Nachbarn die Toten in tiefen Kratern begraben. Kubizeks frenetischer Applaus beim »Walkürenritt« ist dem Schlafwandler nicht entgangen (ein überwältigendes, schauriges, unbarmherziges Loblied des Krieges, das in Bayreuth dank der Verlegung des Orchesters in den Untergrund natürlich ein wenig weicher klingt). Er will die Freundschaft wieder aufleben lassen und erwägt, ihn hinauf in seine private Loge zu bitten, aber im selben Augenblick machen sich Frau Goebbels und ihr Mann wegen irgendeines Seitensprunges eine Szene … Nun ist es schon Zeit für »Siegfried«, den er gern in fast völ
liger trauter Zweisamkeit mit Speer genießen möchte, damit sie sich etwas über neue Bauten in die Ohren flüstern können.
In der ersten Pause der »Götterdämmerung« findet er schließlich Zeit für die Begegnung. Ihm graut davor; hätte er sich von seiner eigenen Gefühlsseligkeit nur nicht dazu bringen lassen. Für unbedeutende Figuren wie Alfred Kubizek hat er keine Zeit.
Schüchtern gratuliert Kubizek ihm zur Eroberung Frankreichs. Er erwidert: Und da stehe ich nun und muss zusehen, wie der Krieg mir die besten Jahre nimmt … Wir werden älter, Kubizek.
5 – Kubizek macht einen Diener, nickt und weiß nicht, was er sagen soll.
Und doch, sagt der Schlafwandler, und doch, das hier … Wissen Sie noch, wie wir Wagners wegen endlose Stunden lang gestanden sind, weil wir uns keinen Sitzplatz leisten konnten? Wissen Sie noch, wie uns die »Götterdämmerung« zu Tränen rührte?
Ja, mein Führer …
Ich sage Ihnen, das ist wie ein Stahlbad. Nach Wagner fühle ich mich gestählt und erfrischt …
Er kehrte in seine Loge zurück und saß hingerissen da, bis zum Ende des letzten Aktes, wenn das ergebene Weib alles, was sie liebt, in Brand setzt, wenn Häuser in sich zusammenstürzen wie Sandburgen, Fensterfronten langsam auf die Straße stürzen und zu Staub und Scherben werden.
In seiner bescheideneren Loge denkt Kubizek an die Zeit zurück, als sie beide jung waren und der
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