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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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Füßen. Nun müssen sie alle eingezogen werden, auch ihre Fabriken werden zu einer Front. Er braucht goldene Ringe und Henker.
    Er spricht von geistigen Werten. Nur sie können seine grauen Kathedralen und seine Wintermäntel vor den russischen Juden retten, die wieder lebendig werden, egal, wie viele von ihnen er verbrennt. Die Arbeiter müssen neue Feldschanzen bauen. Müssen sie nicht alle für die Gefallenen des Krieges geradestehen? Jede Frau wird nun hart arbeiten müssen, all seinen Prinzipien zum Trotz. Notlagen verlangen drastische Maßnahmen. Hat Siegmund sich nicht mit der eigenen Schwester gepaart, um das Blut ihrer Rasse zu retten?
    Und die Arbeiter lauschen. Sie erkennen sein Opfer an. Sie werden ihn nicht um diesen Krieg bringen. Wie das Publikum im Festspielhaus bedenken sie ihn mit »stürmischem Applaus«. Auf seinen Trommelschlag blitzen zehntausend über die Arbeitsfront erhobene Spaten auf. Ihm zu Ehren haben deutsche Frauen ihre Lebkuchenhäuser mit Wimpeln geschmückt. Bald werden die Bomben des Feindes auf sie herniedertrudeln, und er wird sich abwenden, das Gesicht im milchigen Schein der Fackeln leuchtend.
    13
    Immer wohnt er in Bayreuth dem ersten Zyklus bei. Auch in diesem Jahr erscheint er zu früh. In Bayreuth ist die Bühne ohne Dach, wie das zerbombte Stalingrad. Unbeugsam geht der Schlafwandler in seiner Privatloge auf und ab, brütet über den fächerförmig vor ihm ausgebreiteten leeren Sitzen. Er streicht über die korinthischen Säulen. Er knöpft sich das Hemd auf. Beinahe kann er Verena Wagner draußen atmen hören. Vor ihm tut sich der Schalldeckel auf: das offene Grab der Musik. Wie der Bräutigam nach der Braut unter den linnenen Betttüchern schmachtet, so sehnt er sich nach dieser Höhle heimlicher Rast. Nur dort kann er sich sammeln, geschützt vor den anderen, die er immer im unruhig umherschweifenden Blick behalten muss. Dort erneuert sich sein Zauber; er schläft einen traumlosen Schlaf.
    Und so steigt er unter den Schalldeckel hinab. Unter seinen Schaftstiefeln knarren die alten Dielen. In kaltblütiger Furcht greift er die schweißnasse Haarsträhne in der Stirn, in leise plapperndem Selbstgespräch, sucht einen Fleck, an dem er Ruhe finden kann. Aber diesmal
erspäht er jenseits des Dunkels die flackernden Feuer eines Vorhofes! Wir wollen ihn nicht furchtsam nennen. Er ist der Blonde wider die Finsternis. Aber es ist so dunkel wie schon einmal während des letzten Weltkriegs, als er jung war und blind vom Giftgas … Blindlings schreitet er voran. Gehen seine Soldaten nicht auch in Deckung, um durch Tunnel in den Ruinen zu laufen, obwohl die Blitze russischen Raketenfeuers und Flammenzungen ihnen nachsetzen?
    Die Flammen schlagen hoch. Voraus steht eine hochgewachsene Frau. Er reicht ihr kaum bis an die Knie. Ihre Pupillen erinnern an Blitze aus den Speerspitzen der Walküren. Von Neid und Misstrauen gepackt, bleibt er stehen, seine Augen leuchten wie ein grellrotes Paar Ringe.
    Sie ballt die Faust. Da weiß er, dass er vor Gericht steht. Er wacht plötzlich auf, sieht sie aus großen Augen offen an, mit stechendem Blick. Wenn er wirklich wollte, könnte er sie auf seine Seite ziehen. Er wirft den Kopf in den Nacken, spricht aus dem Kinn. Trauervoll ist er, göttergleich, ausdruckslos. Er erträumt sich eine Antwort auf etwas von ihr noch Ungesagtes und erklärt ihr, in den Opern richte sich Wotans edelstes Streben darauf, Ersatz für sich selbst zu finden. Es ist ihm gleich, ob er den Krieg verliert, wenn er nur verhindern kann, dass die Juden den Zauberring wieder bekommen.
    Nun, dann steht es gut um dich, erwidert sie.
    Wie nennt man dich?
    Die-über-das-Klagen-lacht.
    Wer hat dich geboren?
    Das Feuer ist mein Vater. Verderben wird meine Mutter genannt.
    Und was wartest du hier auf mich?
    Dir zu sagen, was du schon immer wusstest – dass du schuldbeladen und besiegt geboren wurdest, dass das Nichts, nach dem du dich verzehrst, sich weigert, dich aufzunehmen, dass alte Schätze verderben, wenn du sie berührst.
    Der Schlafwandler schreit: Verrat! Verrat! Jetzt weiß ich, warum meine Offensive in Russland gescheitert ist! Das ist meine Rechtfertigung. Wenn die Vorsehung meinen Weg bestimmt hat, wie kann man mir dann die Schuld geben? Ihr Judenschlampen habt mich auf Schritt und Tritt bekämpft, aber glaubt ihr, das kümmert mich? Nur zu, jagt mir den Dolch in den Rücken; ich werde euch ausradieren; ich werde
euch alle auslöschen! Ihr haltet euch für

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