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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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ziehen. Bomben fallen wie Beckenschläge; für seine Regierung der Volksgenesung werden im Takt die Waffen geschwungen.
    3
    Wieder zaudert er. Er fürchtet, was ihn im Mirkwald erwartet. Nützen tut ihm dieses Zaudern nichts – hat er die Einladung der Fremden zum Wettkampf nicht schon angenommen? Er verachtet ihre Listen und Schlupflöcher, aber der Krieg hat begonnen; er muss ehrenvoll weitergehen.
    Er hätte gern einen klaren Kopf. Da, der Vorhang hat sich gehoben, aber er muss sich noch ein letztes Mal unter dem geschwungenen schwarzen Schalldeckel verlieren, der den Tunnel zum Orchestergraben vor der Bühne abdeckt. Aus dem Nichts ist er gekommen. Wäre er doch nur aus einem Saal aus solidem Holz gekommen wie Gunnar und Hogni! Nun, er wird sich Deutschland solide träumen . Form- und heimatlos lässt er sich ins Nichts sinken, wann immer er unbeobachtet ist. Ein gewisses samtgepolstertes Etwas sollte er sein, aber er fürchtet, dieses Etwas könnte sich als ein Nichts erweisen. Er stellt
sich vor, wie Gunnar sich gefühlt haben mag, als die Hunnen ihn lebend in die Schlangengrube warfen. Manchmal verwandelt er sich in seinen Träumen in einen schwarzen Sack voller Schlangen. Würgend wacht er auf, aber die Schlangen wollen ihm nicht aus der Kehle kriechen.
    Gunnar hatte eine Harfe; er spielte die Schlangen in den Schlaf – alle außer einer. Und der Schlafwandler, der hüllt sich ganz in Musik.
    4
    Die Lakaien des Schlafwandlers haben ihm einen Traum namens Adlerhorst gebaut – ein Nest, das den rechten Namen trägt, denn verfügt er nicht über die heulenden Adler aus Stahl, die nun in Polen auf Beutefang sind? (Jeder Stuka ist nichts als eine Emanation seines rechten Armes, wie er durch die Luft schneidet.) Der Weg zum Adlerhorst führt über eine gewundene Bergstraße, die den Ergebenen an das Tor aus Bronze trägt, dann durch einen tropfnassen, in den Fels gehauenen Marmorgang und schließlich mit einem Messingaufzug in die Höhe; fünfzig Meter misst der Schacht – höher noch, als bald in Auschwitz der Schornstein reichen wird! Hier kann er auf seine Welt aus Henkersvolk, aus Freundes- und Feindesvolk herabblicken. Ganz fern in Polen kann er bleiche Hände beim Applaus aufblitzen sehen und starre bleiche Gesichter unter Stahlhelmen, erhoben, um seine heisere laute, herrische Stimme besser hören zu können. Genau wie man in Bayreuth Sänger und Zuhörer dasselbe Dunkel teilen sieht, so träumen Hitler und seine Vasallen sich nun durch die große Nacht, deren Netz er aus seiner Angst gewoben hat, Fäden aus Schwarz quer über den Himmel, dicker und dicker, bis die Lichter abgedunkelt sind – genau wie in Bayreuth, jawohl! (Vor Wagner schlenderten frivole Musikmümmler ins Opernhaus, wie es ihnen gerade gefiel, und das Licht passte sich ihnen an, damit Musiker und Wandschmuck sichtbar blieben, und die Sänger waren dazu verdammt, Menschen zu bleiben.) Und auf Befehl schleudern seine Gefolgsleute die Brautgeschenke aus Phosphor, Blei und Stahl gen Osten.
    5
    Da kamen die Stukas herabgeschossen, in gerader Linie, die polnischen Straßen vor sich ausgebreitet wie Blutflecken, die Bomben fallen; Flammen schlagen empor; Menschen schreien und laufen direkt ins Feuer der Maschinengewehre. Die Stukas steigen auf, verschmähen nun diese schiefen, verrußten Trümmer, wie Feindesleut sie verdienen, und geborsten hängen deren Brücken in den Flüssen.
    6
    Mit bleichem, wachem, unbewegtem Gesicht nimmt er die Siegesparade ab, mit Vogelaugen. Wagner hatte in Bayreuth Nebelwerfer und buntes Licht; er hat den vielfingrigen Rauch über den Trümmern Warschaus. Und alles ist wie zuvor – dieselben langen Kolonnen von Zuhörern bei den Parteiaufmärschen, lange Blöcke aus Menschen, bewegliche Kasernen, aufmarschiert, um ihn schreien, warnen und seine Kinder aller Altersstufen ermahnen zu hören. Da kommt die Gestapo, legt neue Namenslisten an, beschlagnahmt die alten. In Österreich hatte sie das Lied des Schlafwandlers viel unauffälliger begleitet, ganz wie Wagners Orchester, das unter dem Schalldeckel im Dunkel lauert. Eine dreiviertelmillion Menschen hat sie am ersten Tag des Anschlusses in Wien verhaftet, aber ganz leise. In Polen muss sie nicht leise sein. Alle guten Deutschen stehen hinter ihr, bis hin zu den letzten »Heil«-lächelnden Damen und Mädels, die alle mit dem Schlafwandler einig sind, dass dieses ausländische Abenteuer, in seinen eigenen schrecklichen Worten, am besten mit Blut besiegelt

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