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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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zum Ausdruck bringen? Wir sind ja gar nicht pianissimo. Wir sind, na ja, Sie wissen schon. Damit werden sie rechnen, obwohl wir gleichzeitig auch die Lautesten sein müssen. Sie wollen, dass ich, also, dass ich das in etwas umdeute, mit dem sie die Menschen füttern können statt mit Würsten! Ohne Formalismus bitteschön! Die können mich mal. Das habe ich nicht nötig.) In den ersten Takten dieser Neunhundert Tage bestand der Chor aus drei Millionen Leningradern, aber ein Drittel von ihnen schied dahin.
2 Eine Witwe war zu schwach, sich durch die Schlange nach Brot zu schlängeln, und sank in den Schnee. Ein geschlechtsloses Kind kaute auf Kaffeesatz herum. Eine Familie aß Ölkuchen mit Zelluloid darin. Genosse Schdanow rief Stalin auf dem Roten Telefon an, aber Stalin nahm nie ab.
    Was den Feuerschutzwart anging, der den Namen D. D. Schostakowitsch trug, ich kann ihn hören, wie er auf den Rand seines Helms das Rattenthema trommelt. Auch wenn er es nie zugegeben hätte, dieser
Krieg war gerade noch rechtzeitig gekommen. Die Explosion der Verzückung bei seiner 1. Sinfonie vor so langer Zeit hätte ihn warnen sollen, denn in unserer Sowjetunion ist es, wie in jeder Belagerungszone, unklug, auf niederträchtige oder verwegene Weise hervorzustechen. Aber der sonderbare Bube, der sich erst in ein Wunderkind mit weibischem Mund verwandelte, dann in einen mit Zigaretten herumspielenden Helden, ich wollte sagen: einen Aaskäfer der Subversion, war nie gut im Sich-Tarnen gewesen. (Sein Einsatz: Beckenschlag – knirsch, knirsch. ) O wie oft die anderen Kinder ihm wehgetan hatten! Linkisch, blass, aus misstrauischen Augen hinter den runden Brillengläsern blickte er allen entgegen, die ihn umzingelten, in einem traurigen Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit, das ihm oft als Unterwürfigkeit ausgelegt wurde. Und wirklich, Kapitulation hätte seine Taktik sein müssen, denn als die Käferlarve, die er war, strahlte er Weichheit aus; er war also die sprichwörtliche blasse intellektuelle Made. Mädchen wollten ihm in die Wangen kneifen, aber die meisten Jungen verachteten ihn schon vor dem zweiten Takt der Ouvertüre. Glaubt man wie jeder wahre Bolschewik, dass die zum Sieg bestimmte Arbeiterklasse eine Vorhut aussenden kann, um ins feindliche Territorium der Bourgeoisie vorzudringen, warum soll man dann nicht zugestehen, dass zum Untergang verurteilte Systeme bei ihrem Abzug entsprechende Nachzügler zurücklassen, die von ihren weichen Händen und ihrer Innerlichkeit verraten werden? Sie können noch ein paar Takte lang überleben; der Komponist muss sie nicht aus seiner Partitur streichen, solange sie den Rhythmus halten, aber überholt sind sie doch; sie sind so vorzeitlich wie die sagenumwobene goldene Eule des Taurischen Palais, der irgendein ausgestorbener Kunsthandwerker des Zaren einmal mittels Uhrfedern und Gebeten so viel Feingefühl einmontiert hatte, dass sie zu Staatsanlässen mit den Augen rollen konnte. (Heute rühren sie sich nicht mehr. Nach der Revolution blieb ihr Mechanismus stehen.) Was den Jungen anging, er blickte aus Eulenaugen in die Welt. Warum habe ich ihn je mit einem Insekt verglichen? Er war ein Vogel, jetzt, wo ich darüber nachdenke; oder vielleicht ein … nennt ihn einen Formalisten. Er blinzelte. Dann setzte er sich ans Klavier. Seine Finger, die viel zerbrechlicher wirkten als Glühwürmchen oder altertümliche Doppeldecker in weiter Ferne, verfielen in ihre herrlichen Zuckungen. Oh, Aufmerksamkeit bekam er, das schon … Aber die Musik selbst? Kein
Geringerer als A. K. Glasunow, Leiter des Leningrader Konservatoriums, gab zu, dass er solche Harmonien nicht verstehe, obgleich er anbot, seinen Platz für sie zu räumen. Unser Mitja, gab er zu bedenken, sei zweifellos das Lieblingskind der Zukunft.
    (Schostakowitsch zog den Kopf ein.)
    Vielleicht spreche ich hier nur aus Neid, fuhr Glasunow fort (und die anderen Professoren lachten bei dem Gedanken, ein so wichtiger Mann wie Glasunow könnte neidisch auf einen Schüler sein), aber trotzdem, Ihr jüngstes Opus gefällt mir nicht! Ha ha, was rede ich da? Ich weiß, er ist ehrlich – du spielst doch nicht etwa nur mit uns, oder, Mitja? –, und was er versucht, ist so, sagen wir: revolutionär , dass man es im allerersten Augenblick nicht würdigen kann …
    Der Schüler lächelte und spielte mit seinen Handschuhen. Seiner Ansicht nach, die er in einer weniger einschüchternden Umgebung bereitwillig vertreten hätte, sollte Musik,

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