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wenn man sie denn auf Gehalt hin las, ausschließlich nach ihrem emotionalen Gehalt beurteilt werden, und vielleicht nicht einmal danach. Diese Haltung war vielleicht weniger neu, als sie wirkte; auch war Glasunow vielleicht nicht ganz so entsetzt, wie er tat. (Wie leicht man die Jugend bevormunden konnte, indem man so tat, als käme man ihr auf halbem Weg entgegen! – Lassen wir den Jungen seine Ideen ruhig ein wenig überbewerten, dachte Glasunow. Vielleicht entwickelt er etwas Wichtiges, wenn er reifer geworden ist.) Als seine Lehrer die Programmmusik von Mussorgski, Wagner, Berlioz und Rimski-Korsakoff anführten, hielt unser wuschelköpfiges Junggenie dagegen, man könne diese Kompositionen ohne Einbußen von ihren angeblichen Gegenständen ablösen; wenn nicht, seien sie als Musik gescheitert. Wenn das so war, warum dann nicht Notenfolgen ohne jeden thematischen Vorwand bauen? Dimitri Dimitrijewitsch Schostakowitsch war jederzeit bereit, mit Schockelementen zu improvisieren, mit Schockmethoden! – Alles schön und gut, seufzte Glasunow, wobei er diskret durch einen langen Gummischlauch ein wenig Alkohol ansaugte, aber Sie dürfen nicht so respektlos sein, Mitja. – Der Junge zuckte entschuldigend zusammen. Es machte ihn zwar nervös, aber er brauchte die Aufmerksamkeit. Eine der angenehmen Eigenheiten Glasunows war, dass er eigentlich alles tolerierte. Als der stellvertretende Direktor Schostakowitsch in einer weißen Sommernacht attackierte, ging Glasunow dazwischen: Dann sind Sie hier falsch. Schosta
kowitsch ist für unsere Kunst eine der größten Hoffnungen.
3 – Wer wird es da also wagen zu behaupten, Mitjas Mentoren hätten ihm nicht helfen wollen? In der UdSSR üben wir Kritik von zweierlei Art: gnadenlose Denunziation der bourgeoisen Ideologie und Kritik durch Schmeichelei unter Genossen. Solange er nicht von dem genau umrissenen Pfad abkam, den Glasunow Ehrlichkeit genannt hatte, hatte er nichts zu befürchten als die zweite Variante, die nie wehtut.
Geboren in jenen vorsintflutlichen Zeiten, da Leningrad noch immer das beklemmende »Petersburg« der Symbolisten war, in deren Alpträumen sich das Herbstlaub in immer engeren Wirbeln drehte und dieselben roten Dominogewänder oder rotäugigen Terroristen auf Schritt und Tritt die Adligen jagten, hauste er, wie alle Kinder, im Mittelpunkt der Welt. Ich würde ihn ungern einen Narzissten nennen, aber Menschen nehmen die Eigenschaften ihrer Wohnorte an, und die Stadt Petersburg ist so verwinkelt, rätselhaft und literarisch, so egozentrisch wie ihre höchsteigene größte Dichterin, A. A. Achmatowa. Dürfen es noch ein paar Adjektive mehr sein? Verschnörkelt und verarmt zugleich, wie der goldbetresste Droschky-Kutscher, der die eigene Familie nicht ernähren kann (und, so gesehen, auch wie die Achmatowa selbst), impft Petersburg seinen empfindsamsten Kindern eine ebenso edle wie lebensfremde Verzweiflung ein. In einer Stadt, deren reiche Ästheten den Grünton des schmelzenden Schnees auf dem Fluss bewundern können, ohne dass der gleiche Ton in den Gesichtern der Hungernden ihnen auffällt, müssen wir davon ausgehen, dass die roten Dominogewänder früher oder später den Sieg davontragen. Denn vor allem bleibt Petersburg die Stadt Raskolnikows, der nur in den Alpträumen Dostojewskis existierte, dessen Verbrechen aber – Mord um einer Idee willen – sich wieder und wieder als sehr realexistent erweist. Leise Trommelwirbel erklingen zu Beginn von Mitjas noch ungeschriebenem Rattenthema. Etwas kommt näher. Mitja greift nach dem herumwirbelnden Laub, und ihm fallen die Handschuhe ab. Schimpfend bückt seine Mutter sich. Tickend vergeht die Zeit, und das Ticken der mörderischen Bombe der Revolution bleibt fast unhörbar, weil sie sich so schlau im Büro des Ministers versteckt. Takt für Takt pulsiert die Ouvertüre des Todes wie die schwarzen Münder der Bogenfenster des Glockenturms der Nikolauskathedrale, wenn sie sich im Krjukow-Kanal spiegeln, wie ein Fischschwanz schwimmt die goldene Kirchturmspitze des Formalis
mus im Wasser, rasch und anzüglich ziehen die schwarzen Öffnungen sich zusammen, in ihrer verzerrten Unberührbarkeit viel lebendiger als die »wirklichen« Bögen über ihnen. Das Lieblingskind der Zukunft blickt auf die zitternden Goldfische hinab und streckt die Hand aus. Seine Mutter lächelt und zieht ihn fort.
Ein Jahr war er alt, als der Blutsonntag das Vertrauen des russischen Volkes in seinen Zaren zerstörte. Als
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