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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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er neun war, gab die Mutter ihm seine ersten Klavierstunden. Ich habe gelesen, dass sie vor der Ehe selbst eine ernstzunehmende Pianistin gewesen sei; zögernd nahm ihr schüchterner, dünner Sohn neben ihr auf der Mahagonibank Platz, wenn man der Familienlegende trauen darf, aber – zum Beweis, dass Eltern immer wissen, was für ihre Kinder am besten ist – nach der dritten Stunde verkündete die Mutter der Familie, er sei »begabt«. Die kleine Eule rollte mit den Augen.
    Die Schauspielerin N. I. Komarowskaja kann sich erinnern, dass sein Hang zu bösen Streichen schon unangenehm auffiel, als er noch ein »blasser, kleiner Junge mit einer widerspenstigen Locke in der Stirn« war.
4 Sagte man ihm zum Beispiel, er solle einen Foxtrott spielen, würde er es versuchen (anders als Generationen von Parteiaktivisten blieb die Komarowskaja immer überzeugt, er habe im Grunde wirklich liebenswert sein wollen), aber bald würden seine Finger abheben in eine Raserei jenseits allen Eifers; dann gingen fremdartige Improvisationen mit der Melodie durch und ließen raues, irres Gezwitscher zurück. Begriff er seine Fehler denn nicht? Da er noch zu jung war, als dass er sich des Zynismus hätte schuldig machen können, wusste niemand, ob man ihn schüchtern, unfähig oder einfach verwirrt nennen sollte. – Seine Kompositionen sind sehr gut, sagte die Kusine Tanja. Natürlich versteht man sie nicht alle gleich beim ersten Hören.
5  – Er blickte auf, als habe er jemanden rufen gehört. In Wahrheit nahmen die weißen Tasten einen Glanz an wie Eiszapfen an einem Dach im Licht der Spätnachmittagssonne, wann immer er die Fingerspitzen auf ein Klavier legte, und die schwarzen Tasten wurden zu Schlitzen im Weiß der Welt, Löchern, die bis ganz hinunter zur reinen Musik vor Bedeutung nur so strotzten. Was sollte er machen? Verloren, köstlich verzaubert spielte er das Unbeschreibliche.
    Einen Monat nach seinem elften Geburtstag schlug die Revolution zu. Die Verlierer lernten, sich hinter einen zu Eis erstarrten Blick zu du
cken. Im vierten Satz seines Lebens, wenn die Hitlerianer kamen, würde Leningrad sich noch weiter in sich selbst zurückziehen, bis hinter die Grenzen des Eisenbahnrings. Zigaretten rauchende, behelmte Faschisten würden rundherum die Dörfer niederbrennen und die russischen Leichen angeekelt mit Füßen treten. Stolz würden deutsche Granaten hereinjaulen, und ihnen würden die Menschen nur allzu gerne Platz machen, aber … Bumm! Eine Explosion der Verzückung hat das Haus des Ministers in Brand gesetzt! Bumm! Der Dirigentenstab kam herabgezischt … – Sie haben an der Kulturfront wirklich einen Sieg errungen, Dimitri Dimitrijewitsch! – Danke, danke, hauchte der junge Komponist. Er schlang die Beine umeinander und entschlang sie wieder. Bange Grimassen flackerten ihm über die Wangen.
    Selbst im Konservatorium löste er, wie ich angedeutet habe, Neid aus. Gewisse andere Studenten (nennen wir sie epochenfixiert) wollten ihn seines Stipendiums berauben, das ihn vor dem nackten Hunger schützte. Aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Seine Mutter versuchte sich zu wehren, als sie ihm das geliehene Klavier wegnahmen, aber er sagte ihr, sie müsse sich keine Sorgen machen; er könne jeden Akkord im Kopf hören, sobald er ihn auf dem Papier habe. Beethoven hatte sich von Taubheit nicht aufhalten lassen, und Mitja konnte noch immer, nun ja, Sie verstehen. Seit seinem dreizehnten Geburtstag hatte er sich in den ungeheizten Klassenzimmern unserer Revolution der Sache geweiht. Seine Mutter hungerte sich seine Nahrung buchstäblich vom Munde ab; ältere Schülerinnen beschützten ihn zu dritt und zu viert und hielten dabei mit flatternden Fingern lange weiße Zigaretten. Noch der schlimmste Hohn der Gleichaltrigen (will sagen: ihre »Kritik unter Genossen«) berührte ihn kaum. Man kann leicht sagen, dass er »an sich glaubte«, aber das bedeutet nichts; kümmern wir uns nicht alle um unsere eigenen Interessen und lassen uns ungern in die Quere kommen? Oder, wie Mitja es ausdrücken würde, jeder komponiert seine eigene Partitur, und dann vergleichen wir. Darf ich nicht sagen, dass er an die Macht der Musik glaubte? Für ihn bedeutete der Bürgerkrieg: Man spielte den Matrosen unserer Baltischen Flotte Beethovens Neunte als Ständchen, dann zogen sie sofort an die Front und bekämpften die Weißen! Er war dabei, am Kai, mit fünfzehn Jahren; er fand, das Orchester schlage sich wacker, der Chor dagegen, nun

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