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ja, mit Hungernden darf man nicht so streng sein. Und die Matrosen, verstehen Sie, sie wa
ren mehr als interessiert, einige wollten sogar, wie soll ich das nur sagen? Zum Beispiel würde er nie den alten Seebären vergessen, der in die Hände klatschte wie ein Kind. Einige von ihnen weinten sogar Freudentränen. Ihre Deputierten sagten, dies sei das erste Mal, dass ihnen überhaupt jemand … Sie verstehen. Und wir hatten kein Brot, das wir ihnen geben konnten, nicht einmal das! Trotzdem, sie, sie, wie kann ich das ausdrücken, sie dankten uns! Dann zogen sie los und, das können Sie sich sicher vorstellen. Viele kamen nicht zurück. – Kurz, Schostakowitsch verachtete alles Praktische. Genau wie die ganze Revolution es tat, angeblich jedenfalls; aber es begegnen uns in diesem Leben Menschen, die, wie eifrig sie auch immer Raskolnikow imitieren und die alte Pfandleiherin umbringen, nur so tun, als ob sie, wie der rasende Lump sich selbst einredete, zu den Göttern gehörten, den Schiedsrichtern, den »außergewöhnlichen Menschen«; ihr wahres Mordmotiv ist, wie wir recht gut wissen, reine Habgier. Zu ihnen würde Schostakowitsch nie gehören. Genährt von den Melodien, die er komponierte, hielt er seine Kampfkraft aufrecht, soweit er welche besaß (ein einziger Blick sagt uns, dass er kaum respekteinflößend wirkte), er hielt seine Erwartungen bedeckt und tröstete sich mit dem Wissen, dass die Welt der schwarzen Tasten ihm Schutz bot, wenn der Druck je unerträglich werden würde. – Sie sind bloß ein Onanist, spottete einer seiner Rivalen. So wie Ihre Musik klingt, möchte ich wetten, dass Sie nicht aus der Arbeiterklasse stammen. – Die Böswilligkeiten verletzten Mitja sehr wohl, zumal sein Großvater in Sibirien ein Umstürzler gewesen war! Trotzdem gelang es niemandem, seine Abwehr zu durchbrechen. Er putzte sich hastig die Brillengläser und hielt den Blicken der anderen Jungen im gelassenen Bewusstsein seines Wertes stand.
Man fing an, ihn einen Individualisten zu nennen. Seine Treue zum kollektiven Leben war nur vorgetäuscht. Er konnte seine Sucht nach den regelwidrigen Harmonien der chromatischen Tonleiter nicht überwinden.
Ungefähr zu der Zeit, als wir den Krieg gewannen, Koltschak und den ganzen Abschaum erschossen und die Sowjetmacht für alle Zeit befestigten, spielte Schostakowitsch für Geld im Filmpalast »Lichtes Band« Klavier, und seine Finger eilten der sogenannten »Handlung« dieser Stummfilme, deren Mittelmäßigkeit ihn bis zum Zornesausbruch bedrückte, voraus; wenn der Held starb, klimperte er eine fröh
lich banale Improvisation; wenn die Heldin geküsst wurde, hämmerte er ein oder zwei Motive aus Wagners »Götterdämmerung« in die Tasten und versuchte, dabei den Tuberkulose-Husten zu unterdrücken. Oh, er hatte ganz schön was abzuliefern! Immer dasselbe, da änderte sich nichts, also würde er es ihnen zeigen! Manchmal beschwerten die Besucher sich; meistens waren sie zu sehr mit Fummeln beschäftigt oder so, wie soll ich sagen, ignorant , dass sie nichts merkten. Gelegentlich machten sie ihm sogar Komplimente. Ein beinamputierter ehemaliger Hauptmann, der sich jeden Film ein halbes Dutzend Mal ansah, drohte ihm mit dem Finger und sagte: Mehr Gefühl, mein Junge! Bring uns zum Lachen, bring uns zum Weinen! – Aber ich, ja, ja, ja!, erwiderte unsere Eule mit ihrer schrillen Stimme. Das nächste Mal mache ich es richtig! Mehr Gefühl; das will ich mir schnell aufschreiben, damit ich besser, äh, Sie wissen schon … – Dann würgte er die Geschichte wieder heraus, dem Vorführer ins Ohr, hustend und lachend. Jeden Nachmittag sagte er sich auf dem Weg zur Arbeit: Wenn ich in fünf Jahren noch dort sitze, verdiene ich das, Sie wissen schon, was ich meine, Gespött . Die winzige nackte Glühbirne über dem Klavier wärmte ihm fast die Hände. Dann kam Lenin und rettete die Welt! Zweiundvierzig Mal hatte er diesen Part gespielt. Da hieß es wirklich aufpassen, denn wenn du dich über Lenin lustig machst, kriegen sie dich am Ende noch dran. Schon gut, schon gut, Lenin ist durch, und ich kann wieder Kapriolen schlagen; Dimitris und Elenas Trennung zieht sich ewig hin, also spielen wir einen Hochzeitsmarsch! Als man ihm schließlich kündigte, nach einem vollen Monat, war er erleichtert.
Er war noch keine zwanzig, als die Leningrader Philharmoniker seine 1. Sinfonie zur Uraufführung brachten. Wie man sich vorstellen kann, opponierte eine Fraktion gegen das Debüt.
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