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dass die Krupskaja an der Waffe nicht zu gebrauchen war und ihre Versuche in Kryptografie ein Lächeln auf die Lippen der Polizeispitzel des Zaren zauberten?)
In typisch hysterischem Exotismus hatte Fanny Kaplan Dum-Dum-Kreuze in ihre Patronen geritzt, so dass sie magische Atome darstellten, und sie dann in eine Substanz getaucht, die sie für Curaregift hielt, die sich aber als völlig wirkungslos erweisen sollte. Dann machte sie sich auf, ihr Glück zu versuchen. Sobald Lenin seine Freitagsansprache an die Arbeiter beendet hatte, gab sie drei Schüsse ab, die summten wie der Buchstabe Mem. Eine Kugel durchbohrte eine Frau, die sich gerade darüber beklagte, dass an den Bahnhöfen das Brot beschlagnahmt wurde. Die zweite traf Lenin am Oberarm und verletzte ihn an der Schulter. Die dritte fuhr ihm aufwärts durch die Lunge in den Hals und blieb (wenn man eine Schussverletzung überhaupt so beschreiben kann) zufällig irgendwo stecken. Lenin erbleichte, und er sank auf das Trittbrett, blutend, bewusstlos.
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Die Tscheka schickte der Krupskaja einen Wagen, ohne ihr etwas zu sagen. Sie war starr vor Angst; am selben Tag war bereits der führende Tschekist Uritski einem Anschlag zum Opfer gefallen. In solchen Momenten, wenn wir plötzlich den Menschen zu verlieren drohen, den wir lieben, beginnt die Geschichte unserer Ehe zu leuchten, und auf dem Papier erzittern die Buchstaben wie einst unsere Seelen, als uns die Unausweichlichkeit des ersten Kusses dämmerte. Später, wenn er überlebt, klingen diese Worte trocken und schal. Aber jetzt bebt der geliebte Name in jedem unserer Glieder, und wir fühlen uns schwach und krank. Die Krupskaja litt schon an jener Herzkrankheit, die sie durch die restlichen Kapitel ihres Lebens begleiten sollte. Sie fühlte sich halb erstickt. Sie sah doppelt; die Straßen Moskaus glänzten vor Tränen. Als sie in den magischen Kreis der Lettischen Gewehrschützen eindrang und auf ihren offenbar im Sterben liegenden Gatten stieß [ 5 ] , fasste
sie sich und nahm still seine Hand. (Jahre später würde sie seiner Beisetzung trockenen Auges beiwohnen.) Er lag auf der rechten Seite. Sie sagten, er habe die Augen geöffnet, als das Auto vorgefahren sei; er habe die Stufen selbst hinaufsteigen wollen. In der Geheimtasche in ihrem Kleid umklammerten ihre Finger den Kupferring, den er ihr in Schuschenskoje gegeben hatte.
Die Ärzte hatten bereits seinen Anzug aufgeschnitten. Lenins Augen wollten sich nicht öffnen. Er atmete mit dem verzweifelten, flachen Keuchen eines Liebhabers kurz vor dem Orgasmus; und als wollte er diesen Eindruck noch verstärken, war auf seiner papierweißen Brust ein Kräusel Blut in der Form des Buchstabens Lamed getrocknet, dessen schlangenartige Gestalt kabbalistisch mit dem Geschlechtsverkehr assoziiert wird.
In der Morgendämmerung atmete er tiefer, und dann blickte er sie an. Die Krupskaja flüsterte: Wir haben niemanden außer dir. Bleib bei uns; rette uns …
Um sie zu trösten, sagte eine der Schwestern (die selbst weinte): Er braucht Sie, Nadeschda Konstantinowna.
Dann begannen sie alle, ihn zu heilen und ihm Injektionen zu setzen, aus einer plumpen gläsernen Spritze, deren Gestalt an den Buchstaben Koph erinnerte, Sinnbild des inneren Auges.
Kaum war er wieder bei sich, wurde er ungeduldig. Er hatte viel zu tun, um seine Revolution abzusichern. Die Krupskaja hatte ihn kaum für sich allein. Zuerst waren da die Ärzte, dann Trotzki, Stalin und der Rest, die ihm zum Überleben gratulieren wollten. Halb im Scherz blickte er die Krupskaja an und rollte mit den Augen. Sie wusste, dass er sich danach sehnte, Zeit für sich zum Arbeiten zu haben, um neue Gebote zu entwerfen und Zeugnis abzulegen. Wie konnte sie ihm helfen? Wie konnte sie ihn davon abhalten, vor lauter Arbeit einen Rückfall zu riskieren? Schüchtern räusperte sie sich und sagte: Denk dir diese Erholungszeit einfach als noch eine Gefängnisstrafe, Wolodja. Du weißt, damit kannst du umgehen! – Er lachte entzückt.
Am 14. September brachte sie ihn auf ein beschlagnahmtes Anwesen
in dem schönen Dorf Gorki. Hinter diesen Mauern erholte er sich im Geheimen. Die Krupskaja war an seiner Seite, so oft er es ihr erlaubte. Wenn er schlief, saß sie in ihrem Zimmer und flüsterte mit einer solchen Inbrunst seinen Namen vor sich her, dass die Schwestern meinten: Es ist fast, als glaubte sie, er scheide dahin, wenn sie auch nur für einen Augenblick die Augen schließt! – Sie wollten sie überreden,
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