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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sich auszuruhen, aber da brach sie in Tränen aus.
    Nach einer weiteren Woche nahm man Wolodja die Verbände ab. Bevor es Oktober wurde, konnte er schon wieder ohne ihre Hilfe gehen, obwohl er viel Blut verloren hatte und seine Augen dunkel gerändert waren. Kurz bevor der Monat zu Ende war, brachte sie ihn heim in den Kreml, sie schlief bei offener Tür, für den Fall, dass er nach ihr rief. Er tigerte schon wieder die ganze Nacht über auf Zehenspitzen in seinem Büro auf und ab und murmelte vor sich hin, auf der Suche nach klaren politischen Richtlinien; die wohlvertrauten Geräusche beruhigten sie. Anfang November war er fast völlig wiederhergestellt. Die Bolschewiken feierten es, indem sie überall sein Götzenbild aufhängten.
    6
    Fanny Kaplan wurde am selben Tag hingerichtet, an dem der Kommissar des Inneren seinen berüchtigten »Befehl, Geiseln betreffend« erließ, dem zufolge alle Rechten Sozialrevolutionäre sofort zu verhaften und nach Bedarf für Massenhinrichtungen bereitzuhalten waren. Allein in Perm wurden zur Vergeltung für Lenin und Uritski sechsunddreißig Häftlinge erschossen. So zahlte man den Terroristen alles bis zur letzten Münze heim. Keine vierundzwanzig Stunden später war der Rote Terror geboren. Die Geburtsanzeige zischte durch die Telegrafendrähte wie der Buchstabe Sin , dessen drei vertikale Arme in mohnblütenartigen Flammen enden. Währenddessen verlangte die Presse immer mehr und noch mehr Blut. Um mit dem Genossen N. W. Krylenko zu sprechen, der immer das rechte Wort zur Zeit fand (und für den das Schicksal den Tod durch Erschießen bestimmt hatte): Wir dürfen nicht nur die Schuldigen hinrichten. Die Hinrichtung der Unschuldigen wird die Massen noch weit mehr beeindrucken.
    Aber anders als die Attentäterin, deren Schweiß nach Zorn und
Angst gestunken hatte, ließ sich die Krupskaja nicht davon überzeugen, dass eine Mitrevolutionärin hingerichtet werden sollte.
    Das wird das Zentralkomitee entscheiden müssen, sagte ihr Gatte. Er wusste, dass Fanny Kaplans Leiche bereits verbrannt und die Asche in einem anonymen Grab beigesetzt worden war.
    Ich bin wirklich keine Versöhnlerin, Wolodja. Meine Einstellung hat sich in den dreißig Jahren nicht geändert.
    Ich denke darüber nach.
    Es tut mir leid, dass ich dich damit behellige. Ich habe mir ihren Fall nur zu Herzen genommen, weil …
    Langsam hob er den kahlen Schädel von der aufgeschlagenen Prawda (von ihr aus gesehen lag sie verkehrt herum), die er gewohnheitsmäßig mit beiden Händen hielt, und blickte sie über die neutrale Zone seines Schreibtischs hinweg an, geschützt vor ihr von seinen beiden Tintenfässern, deren Messingdeckel glänzten wie die Kuppeln orthodoxer Kirchen, von seiner Lampe und seinem Telefon, seiner langen schmalen Schere, deren Spitze auf sie wies, und sein Blick war sehr traurig, als er sagte: Wo ist Makarows Wörterbuch? Ich glaube, ich möchte darin lesen. Die alphabetische Anordnung von Wörtern erzeugt ein so erfrischendes Chaos. Ach – sieh nur. Da finden wir in einer Reihe schläfrig, ungetrocknet, Schuleschwänzen, Undeutlichkeit, Wonne und dann misstönend. Ganz verschiedene Konzepte! Und alles, weil die Worte mit den Buchstaben HE beginnen. Auf Englisch oder Hebräisch wäre die Anordnung eine völlig andere, denke ich. Und was, wenn es eine vollkommene Ordnung gäbe, an die bisher noch niemand gedacht hat? Aber meine Gedanken zur Linguistik sind ohne Belang …
    Versprich mir, dass du das nicht zulassen wirst, bat die Krupskaja, die durch ihre Schilddrüsenerkrankung bereits die vorstehenden Augen hatte, die ihr den Spitznamen »Der Fisch« einbringen sollten. (Merkwürdigerweise war in ihrer Jugend einer ihrer Decknamen als Revolutionärin »Das Neunauge« gewesen.)
    Lenin zwinkerte und sagte: Nadja, du weißt sehr gut, welchen Gefahren unsere Revolution gerade ausgesetzt ist.
    Ich habe dich nie um etwas gebeten. Ich habe dich geheiratet; ich habe dir die Kleider geflickt; ich habe dir deine Geliebte gelassen und sogar mit ihr zusammengearbeitet. Rette diese Frau, Wolodja, ich bitte dich!
    Lenin sagte ihr: Nadja, du musst deine Gefühle zügeln.
    Schwer atmend und zitternd setzte sie sich. Sie war zu dick und nicht gesund; nicht lange darauf sollte sie ihren ersten Herzinfarkt erleiden.
    Nicht, dass Lenin ihr nicht zugetan gewesen wäre. Mit eigenen Händen hatte er seiner Frau Milch gebracht, als sie im Sanatorium lag. (Bei einem dieser Einsätze hatten Banditen ihm den Mantel

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