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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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geraubt. Bei einem anderen hatten sie eines seiner Autos enteignet.) Ganz nach ihren Fähigkeiten hatte er ihr politische Macht gegeben. Er hatte ihr im Kreml einen kleinen, verzierten Schreibtisch am Fenster geben lassen, ein Sofa, umgeben von Bücherschränken, eine Privatbibliothek von zwanzigtausend Bänden: Das war ihr Luxus. Nun hatte sie zum ersten und letzten Mal eine Bitte an ihn. Also ließ Lenin den Genossen J. W. Stalin zu sich rufen, der in solchen Angelegenheiten so nützlich war. Stalin lächelte verärgert und sagte: Schon erledigt.
    Bloß weil sie Lenin fickt, heißt das nicht, dass ich für sie Männchen machen muss, sagte er zu seinem Stellvertreter Molotow, der sofort zustimmte: Sie versteht nichts von Politik. Gar nichts.
    Eine Woche darauf erklärte Lenin seiner Gattin: Alles ist gut. Ich habe Erkundigungen eingezogen. Morgen kannst du mit ihr sprechen. Aber das muss alles streng geheim bleiben. Im Augenblick ist die ganze Welt gegen uns.
    Die Krupskaja fiel auf die Knie und küsste ihm die Hand.
    7
    Sie machte sich allein auf den Weg ins Gefängnis, wie es typisch für sie war, in ihrem fleckigen und schmutzigen Bauernkleid, das Haar zu einem Dutt gebunden. Es schneite und die Straßen waren gefährlich glatt. In jenen Tagen war es üblich, dass einem Dutzende furchteinflößender, halbgebildeter Gestalten nacheinander den Ausweis prüften, und keine konnte einem Absolution von der Angst erteilen, jede aber besaß die Erlaubnis zu schießen. Irrtümliche Unbarmherzigkeit wurde unter dem Roten Terror vergeben; irrtümliche Barmherzigkeit eher nicht. Kraft ihrer besonderen Verbindung zu Lenin besaß die Krupskaja die Selbstsicherheit einer Erwählten, aber selbst sie hatte mit Unannehmlichkeiten zu rechnen, besonders da sie eine verurteilte Volksfeindin aufsuchen wollte. Und doch, so seltsam das klingen mag, öffnete der
Wachsoldat ihr, die Mütze tief über die Augen gezogen, ohne Murren das quietschende Tor, und als sie die Treppen hinabschritt, stieß sie in einem Labyrinth aus Ziegelmauern auf einen zweiten Wachsoldaten, der sie erwartete, auch wenn sie nie mehr von ihm sah als seinen Rücken. Schweigend führte er sie eine weitere Treppe hinab, und von seinen Stiefeln ging Dunkelheit aus. Hinter den Mauern erklangen rhythmische Schreie, manchmal gedämpft von der Erde dieser tief eingesunkenen Grabesbrunnen, manchmal verstärkt von den Lüftungsrohren, gerade so wie in den Überlieferungen aus antiker Zeit, wenn aus der Kehle eines hohlen Bronzestiers die Schreie der sizilianischen Opfer ertönten, die in seinem Leib langsam geröstet wurden. Wie wir wissen, war die Krupskaja ein Seelchen (und unter all ihren Büchern war ihr insgeheim Louisa May Alcotts Junge Menschen das liebste), und diese Geräusche entsetzten sie. Aber von Kindheit an war ihre schwere, traurige Beharrlichkeit, die sich als Optimismus tarnte, unerschütterlich gewesen. Sie trottete weiter, der Wache nach, die schließlich stehenblieb und mit drei Schlüsseln eine uralte Eisentür aufschloss. Er trat beiseite, das Gesicht im Schatten, und kaum war sie eingetreten, schloss er die Tür hinter ihr.
    8
    Was diese Zelle angeht, hätte der Krupskaja auffallen können, dass in die Mauern hebräische Schriftzeichen eingeritzt waren und im flackernden Lampenschein beinahe flatterten. Natürlich war sie schon so lange über ihre religiöse Phase hinweg, dass sie für das Unheimliche keinen Blick mehr besaß. Und doch kann jeder in ihren Memoiren nachlesen, wie ihr vor Freude buchstäblich das Herz schlug, als sie zum ersten Mal das Kapital las, weil Marx dort mit wissenschaftlicher Unfehlbarkeit bewiesen habe, dass der Kapitalismus zum Untergang verdammt sei. Nun, was könnte für eine fromme Bolschewikin das Unheimliche ausmachen? Die Gegenwart einer Sozialrevolutionärin? Aber wozu dem nachspüren, was nicht von dieser Welt war? Beweggründe ruhen in Beweggründen verborgen wie der numerologische Wert der Buchstaben in den Worten hebräischer Parabeln. Wenn, wie die Kabbala behauptet, die geheimste Bedeutung zugleich die kostbarste ist, dann müssen wir hinab ins hermeneutische Dunkel. Die Krupskaja musste
sich beweisen, dass sie so außergewöhnlich war, persönlichen Rachegelüsten so fern, dass sie sogar derjenigen vergeben konnte, die ihren göttergleichen Gatten hatte umbringen wollen. Doch Vergebung lässt noch immer Verachtung zu. In den Windungen dieser Vernunft verbarg sich ein zweites Begehren, das sie kaum zu lesen

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