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wagte, eine Lust auf Bestärkung, was ihre Revolution anging. Aber all das erklärte noch nicht die Heftigkeit, mit der die Krupskaja sich zu Fanny Kaplan hingezogen fühlte.
In ihren Mädchenjahren hatte es eine achtzehnjährige Lehrerin namens Timofeika gegeben, die den Bauern den Sozialismus predigte. Die Krupskaja himmelte sie an und verschaffte ihrer Schwärmerei durch Nachahmung Ausdruck. Ihr Verlangen, sich selbst aufzugeben und die Timofeika zu werden, hing zwischen ihnen wie ein leuchtender Buchstabe Tzade, y-förmig wie die Vulva der Frau, aber in einen Angelhaken auslaufend; er steht für Anhänglichkeit, Penetration und Parasitentum. (Verstehen Sie mich nicht falsch; sie haben einander nie auch nur berührt. Die Schlüsselworte ihrer Geschichte sind keine der Wollust, sondern haben, wie üblich, mit Ehre zu tun, mit Anbetung, Brandopfer.) Jedenfalls, Timofeika wurde bald verhaftet; die Krupskaja sah sie nie wieder. Sehr wahrscheinlich wurde sie Sozialrevolutionärin wie Fanny Kaplan. Die Krupskaja hätte also sowieso mit ihr brechen müssen, um Wolodja nicht zu kompromittieren, der ihr in Sibirien verboten hatte, Ostereier zu bemalen, weil dies ein Rückfall in den religiösen Aberglauben sei.) Vielleicht verbarg sich in ihrer Neugier auf Fanny Kaplan ein Hauch Sehnsucht nach Timofeikas Reinheit. Und zugleich war ihr Verlangen, wie mehr und mehr bei allem, was sie liebte, von Abscheu und Zorn getrübt.
Und so saß die Krupskaja da, die Hand auf dem Tisch, gekleidet in die weiße Bluse und das schmuddelige gestreifte Wams, das sie so oft anlegte, blickte die Gefangene düster an und blinzelte mit ihren müden, vorstehenden Augen. Ihr Gesicht war gebräunt, fast bis ins Schmutzigbraun, dank all ihrer Propagandaarbeit an der frischen Luft. Ihr strähniges Haar und die beiden senkrechten Falten zwischen ihren Augen verliehen ihr eine Anmutung von Dringlichkeit, fast von Wahnsinn.
9
Was die Strafgefangene anging, sie ließ sich kaum herab, aus ihren halb geschlossenen Augen einen Blick auf die Krupskaja zu werfen. Die Besucherin verstand diese unaufhörliche Kälte, oder zumindest Reserviertheit, als Schuldeingeständnis. Aber in ihrem sozialistischen Glauben, genau wie in der privaten Beziehung zu ihrem Gatten, hatte sie sich schon so lange daran gewöhnt, individuelle Eigenheiten für irrelevant zu halten, dass diese Verschlossenheit sie kaum berührte. Fragen ließen sich beantworten, ohne dass die »Persönlichkeit« auch nur eines der Worte einfärbte. Die säuberlichen Reihen von Buchrücken hinter Wolodjas Schreibtisch hielten Statistiken, Irrtümer, Energie, Düngemittel bereit. Was bedeutete da der Blick ihrer Verfasser? An Fanny Kaplan war sie nur insoweit interessiert, als sie eine Kraft verkörperte, die ihr eigenes Geschichtsverständnis in Frage stellte.
Schließlich wischte sich die andere Frau, halb abgewandt, mit einer langfingrigen fahlen Hand die Haare aus dem Gesicht, räusperte sich und sagte heiser: Nun, warum sind Sie gekommen?
Die Krupskaja erwiderte: Ich bin nicht gekommen, Sie zu retten. Ich bin gekommen, Sie zu verstehen und mir eine Last von der Seele zu nehmen.
Ah! Sie sprechen wie eine echte Russin – so mystisch, so gefühlvoll …
Und Sie? Sie sind keine Russin?
Ich bin Jüdin.
Was hat das schon zu sagen? Trotzki ist Jude und Swerdlow, Litwinow, Tschitscherin, Radek, Sinowjew, Kamenew, Krestinski …
Als ich noch am Leben war, war ich eine Sozialrevolutionärin, aber nun, da ich tot bin, bin ich ganz zur kleinen Jüdin geworden. Als sie mich verhaftet haben, haben sie immer nur von meinen jüdischen Zügen gesprochen …
Papperlapapp, insistierte die Krupskaja. Sie wissen, dass die Herkunft ohne Bedeutung ist. Sagen Sie mir nicht, dass Sie gerade dieses Verbrechen begangen haben, weil Sie Jüdin sind.
Sie ertappte sich dabei, wie sie gerade dieses Verbrechen sagte, weil sie vor dieser Schurkin nicht den Namen ihres Gatten in den Mund nehmen wollte. Ihn Lenin zu nennen, würde bedeuten, ihre Beziehung zu ihm zu verleugnen, was ihr fast wie Verrat vorkam; Wolodja dagegen wäre zu vertraulich; bei F. D. Kaplan war sie gewiss nicht auf Vertrau
lichkeit aus. In der Öffentlichkeit gebrauchte sie das familiäre Iljitsch , das hier denkbar war, aber sie zog es irgendwie vor, die Präsenz des Opfers unbenennbar und drohend zwischen ihnen hängen zu lassen wie die Schneide einer gigantischen Guillotine.
Warum nennen wir meine Tat nicht einfach eine religiöse
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