Eva schläft - Melandri, F: Eva schläft - Eva dorme
beiden, Gerda und Frau Mayer, zu ähneln begonnen, wie es mit alten Paaren geschah. Mit ihren fast fünfzig Jahren war Gerda immer noch eine schöne Frau, rief aber bei den Männern nicht mehr dieses schmachtende Verlangen wie früher hervor, wodurch es Frau Mayer erst möglich wurde, sie mehr ins Herz zu schließen. So hatte sie auch nichts dagegen einzuwenden, als Gerda ihr mitteilte, dass sie einen Tag Urlaub brauche. Sie bemerkte lediglich, sie habe gar nicht gewusst, dass ihr Vater noch lebe.
»Ich auch nicht«, antwortete Gerda.
Jetzt durchquerte sie den Flur, der vom Eingang des Altersheims zum Treppenaufgang führte. In den unteren Geschossen waren jene Bewohner untergebracht, die sich noch selbst verpflegen konnten, die noch die Dolomiten lasen, sich verliebten und gegenseitig wilde Eifersuchtsszenen machten. Auf den oberen Stockwerken wohnten die Alten, die nicht mehr allein zurechtkamen. Je näher oder wahrscheinlicher das Ableben eines Gastes war, desto näher lag sein Zimmer am Himmel.
Gerda folgte dem Weg, den man ihr an der Rezeption beschrieben hatte, und hielt sich rechts, stand aber plötzlich vor einer Toilettentür. Und schon hatte sie sich verlaufen. So wie fast alle Besucher, die zum ersten Mal hierherkamen. Bei all den unerwarteten Ecken war es schnell passiert, dass man links und rechts durcheinanderbrachte. Gerda machte kehrt und beschloss, auf den Fahrstuhl zu verzichten und die Treppe zu nehmen. Da stieß sie mitten im Flur auf eine kleine Menschenmenge. Vielleicht ein Dutzend Personen – Pflegekräfte, Bewohner und Besucher – umstanden eine große, hagere Gestalt auf Krücken, die trotz ihres Alters für Gerda unverwechselbar war. Sie schrak zusammen: Es war ihr Obmann!
»Das kann ich Ihnen garantieren, gnädige Frau«, sagte dieser gerade zu einer alten Dame im Rollstuhl, »Hüftosteoporose hat keinen negativen Einfluss auf ihre geistigen Fähigkeiten. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Säße die Intelligenz in den Beinen, müsste man mich als Idioten bezeichnen.«
Und die Dame im Rollstuhl lachte wie ein junges Mädchen, das jederzeit hätte aufstehen und tanzen können.
Mit seinen bald achtzig Jahren hatte Silvius Magnago seine Ämter aufgegeben und war nicht mehr Landeshauptmann von Südtirol und auch nicht Obmann seiner Partei, deren Ehrenvorsitzender er allerdings blieb. Wenige Monate zuvor, im Juni 1992, hatte Österreich der Republik Italien eine Note übergeben, in der anerkannt wurde, dass der italienische Staat seinen Ver pflichtungen gegenüber der deutschsprachigen Minderheit in der Region Trentino/Alto Adige nachgekommen sei. Der offizielle Begriff dafür lautete: Schuldbefreiungsbestätigung. Ein Begriff, der sich nach Anwaltskanzlei anhörte, nach Buchhaltung und Kaufbelegen, jedoch sicher nicht nach Heldentaten – aber vielleicht lag gerade darin Silvius Magnagos politischer Erfolg begründet. Und da er nun seine historische Aufgabe erfüllt hatte, war er auf andere Weise erfolgreich: indem er Seniorenheime in der Provinz Bozen besuchte und dort Menschen seines Alters mit einem trockenen Humor überraschte, den ihm früher, während seiner politischen Laufbahn, niemand zugetraut hätte.
Magnago deutete jetzt auf die Zigarette in der Hand einer jungen Krankenschwester. »Die Heimleitung hat mir verboten, Ihnen Zigaretten mitzubringen, davon würden Sie Krebs bekommen. In dem Heim in Lana hat man es mir dagegen erlaubt. Und soll ich Ihnen mal sagen, warum? Weil deren Warteliste länger ist und sie ein wenig Unterstützung brauchen können.«
Ein kurzes Schweigen, dann brach die ganze Runde in ein befreiendes, fast wildes Gelächter aus.
Mit Herzklopfen trat Gerda näher. Beim Anblick dieses Mannes kam sie sich wieder als kleines Mädchen wie damals auf der Burgruine Sigmundskron vor, als er die Menschenmenge in seinen Bann geschlagen hatte.
»Herr Obmann …!«, murmelte sie.
Magnago erblickte sie, wandte sich ihr mit einem liebenswürdigen Lächeln zu und ergriff die Hand, die sie, verblüfft über ihren eigenen Mut, ihm entgegenstreckte.
»Schöne Frau, Sie sind zu jung, um hier zu wohnen. Besuchen Sie einen Angehörigen?«
»Ja, meinen Vater.«
»Das ist gut. Es ist wichtig, dass ihr Jungen uns Alte nicht uns selbst überlasst. Wie geht es Ihrem Vater?«
Gerdas Mund wurde trocken. Zum Glück mischte sich jetzt ein bestimmt achtzigjähriger alter Mann ein, der sich, auf einen Stock gestützt, durch den Flur geschleppt hatte, und sagte an
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