Evas Auge
ich begreife ja nicht, wieso ihr da nichts machen könnt. Und Jan Henry soll hier aufwachsen, und er ist nicht gerade der stärkste Charakter auf der Welt, darin ähnelt er seinem Vater.«
»Einen starken Charakter«, Sejer lächelte, »sowas entwickelt man erst nach und nach. Jan Henry hat doch noch ein paar Jahre Zeit. Aber wir haben den möglichen Käufer über die Zeitungen und übers Fernsehen gesucht«, erinnerte er sie, »und niemand hat sich gemeldet. Niemand hat sich getraut. Entweder hat Ihr Mann gelogen, als er an dem Abend von zu Hause weggefahren ist, vielleicht hatte er wirklich etwas ganz anderes vor. Oder dieser Käufer ist wirklich der Mörder.«
»Gelogen?«
Sie starrte ihn empört an. »Wenn Sie glauben, daß er Geheimnisse hatte, dann irren Sie sich. Er war nicht der Typ. Und er ist auch nicht fremdgegangen, er ist bei Frauen nicht mal angekommen, wenn ich ehrlich sein soll. Er hat gesagt, er wollte jemandem das Auto zeigen, und dann ist das auch die Wahrheit.«
Sie sagte das so schlicht und bündig, daß Sejer überzeugt war. Er dachte kurz nach, sah, daß der Kleine sich hereinschlich und vorsichtig hinter seine Mutter trat. Er zwinkerte dem Jungen kurz zu.
»Wenn Sie weiter zurückdenken, gab es dort irgend etwas, das anders war als der Normalzustand? Sagen wir, sechs Monate vor seinem Verschwinden und dann bis zu dem Tag, an dem sein Auto auf dem Schuttplatz gefunden wurde – fällt Ihnen eine Episode – oder eine Periode – ein, wo er anders wirkte, vielleicht besorgt oder so? Ich meine, alles kann wichtig sein. Anrufe? Briefe? Tage, an denen er vielleicht später von der Arbeit kam, Nächte, in denen er schlecht schlief?«
Jorun Einarsson zerkaute noch ein Stück Zucker, und er sah, daß ihre Gedanken in der Zeit zurückwanderten. Sie schüttelte bei irgendeiner Erinnerung leicht den Kopf, verwarf den Gedanken aber und überlegte weiter. Einarsson jr. atmete lautlos und spitzte die Ohren, wie Kinder das eben so machen.
»An einem Abend gab es in der Kneipe Ärger. Ja, das gab es wohl dauernd, und richtig ernst war es auch nicht, aber irgendwer war sternhagelvoll, und der Wirt hat die Polizei angerufen. Das war einer von Egils Kumpels, aus der Brauerei. Egil ist hinterhergefahren und hat sie angefleht, ihn wieder rauszulassen. Er hat versprochen, ihn nach Hause zu fahren und ins Bett zu stecken. Und das hat wohl auch geklappt. In dieser Nacht ist er erst um halb vier morgens nach Hause gekommen, und ich weiß noch, daß er am nächsten Morgen verschlafen hat.«
»Ja? Und hat er Ihnen erzählt, was passiert war?«
»Nein, nur, daß er sturzbesoffen gewesen war. Nicht Egil, meine ich, sondern der andere. Egil war ja mit dem Auto da, er mußte eigentlich zur Frühschicht. Aber ich habe ihn auch nicht gefragt, sowas interessiert mich nicht.«
»Hat er sich oft so um andere gekümmert? Das war doch nett von ihm. Er hätte doch drauf pfeifen und seinen Kumpel seinem Schicksal überlassen können.«
»Er war nicht besonders fürsorglich«, sagte Jorun Einarsson. »Wo Sie schon fragen. Er hat sich sonst nicht viel um andere gekümmert. Ich muß also zugeben, daß ich ein bißchen überrascht darüber war, daß er sich diese Mühe gemacht hatte. Um einen aus der Ausnüchterungszelle zu holen. Doch, ich habe mich wohl ein bißchen gewundert, aber sie waren schließlich befreundet. Ehrlich gesagt habe ich mir deswegen keine großen Gedanken gemacht. Ich meine, das mache ich erst jetzt, weil Sie danach gefragt haben.«
»Wann ungefähr ist das passiert?«
»Ach, Gott, das weiß ich nicht mehr. Eine Weile vor seinem Verschwinden.«
»Wochen? Monate?«
»Nein, ein paar Tage vielleicht.«
»Ein paar Tage? Haben Sie sich an diese Episode erinnert, als wir im Herbst miteinander gesprochen haben? Haben Sie die erwähnt?«
»Ich glaube nicht.«
»Und dieser betrunkene Kumpel, Frau Einarsson, wissen Sie, wer das war?«
Sie schüttelte den Kopf, schaute sich kurz um und entdeckte ihren Sohn.
»Jan Henry! Du solltest doch auf deinem Zimmer bleiben!«
Der Junge stand auf und stahl sich wie ein verjagter Hund aus dem Zimmer. Sie goß Kaffee nach.
»Den Namen, Frau Einarsson«, sagte Sejer leise.
»Nein, das weiß ich nicht mehr«, sagte sie. »Das sind so viele, eine ganze Clique, die sich in dieser Kneipe trifft.«
»Aber am nächsten Morgen hat er verschlafen, stimmt das?«
»Ja.«
»Und in der Brauerei gibt es eine Stechuhr, nicht wahr?«
»Mm.«
Sejer überlegte kurz.
»Und als
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