Eve & Caleb - 01 - Wo das Licht war
wache ich nachts in Panik auf. Ich glaube, ich bin wieder in den Arbeitslagern und schleppe Betonblöcke auf meinem Rücken. Oder ein Junge auf der Pritsche neben mir spuckt Blut. Aber dann merke ich, dass es nur ein Traum ist, und ich bin froh.«
»Froh?«
Caleb drehte sich zu mir. »Froh, dass ich aufwachen kann. Dass es nun nur noch ein Albtraum ist. Früher war es mein Leben.«
Der Wagen quälte sich eine steile Straße hinauf, die neue Belastung entlockte dem Motor ein lautes knirschendes Geräusch. Rings um uns erhoben sich die Berge der Sierra Nevada. Ich starrte durch das Fenster auf einen steilen grünen Abhang und dachte wieder an meine Mutter und die Lieder, die sie mir vorgesungen hatte, wenn sie mich in der großen Badewanne gebadet und dabei mit der Hand eine Spinne nachgeahmt hatte.
»Denkst du noch an deine Familie?«, fragte ich plötzlich. Caleb hatte erzählt, dass er mit sieben ins Arbeitslager gekommen war, von seinem Leben vorher wusste ich jedoch wenig. War er wie ich mit dem Fahrrad herumgefahren? Musste er sich mit seinen Brüdern ein Zimmer teilen? Hatte er seine Eltern gekannt?
»Jeden Tag.« Der Wagen stotterte, als er die Straße hinauffuhr, das dichte Unkraut auf der Straße machte das Vorankommen schwierig. Auf einer Seite erhob sich eine Felswand. »Ich versuche, mich an die Zeit vor der Seuche zu erinnern, als ich mit meinem Bruder und seinen Freunden ›Capture the Flag‹ im Garten gespielt habe. Bei dem Spiel musste man die Flagge der gegnerischen Mannschaft erobern, ohne selbst seine Flagge zu verlieren oder gefangen genommen zu werden. Er war fünf Jahre älter, aber er hat mich mitspielen lassen. Manchmal musste er mich über die Linie tragen, damit ich nicht gefangen wurde.« Ein Lächeln huschte über Calebs Gesicht und verschwand wieder.
»Wo hast du gelebt?« Ich drehte mich zu ihm und lehnte mich mit der Hüfte gegen das Polster.
Caleb kniff die Augen zusammen. »In einem Staat namens Oregon. Es war kälter dort, regnerisch. Wir mussten immer Jacken tragen. Alles war so grün.« Wir hörten ein kratzendes Geräusch, als der Wagen kurz von der Straße abkam. Dann waren wir wieder in der Spur und fuhren weiter, von Zeit zu Zeit knackte unter den abgefahrenen Reifen ein Ast. »Was ist mit dir? Hattest du Brüder oder Schwestern?«
»Es waren nur meine Mom und ich.« Ich starrte aus dem Fenster den Hang hinunter, der nur einen Meter neben uns abfiel, je weiter der Wagen sich den Berg hinaufschraubte, desto steiler ging es in die Tiefe. Ich erinnerte mich daran, wie sich der Atem meiner Mutter in meinem Ohr angefühlt hatte, wie mich ihre Finger in der Seite gekitzelt hatten. »An meinem Geburtstag hat sie immer diese eine Sache gemacht. Sie hat mir Frühstück ans Bett gebracht und gesungen: ›Heute, heute ist ein ganz besonderer Tag … heute hat jemand Geburtstag …‹« Meine Wangen fühlten sich beim Singen heiß an, meine Stimme klang dünn und zittrig.
»Wann hast du denn Geburtstag?« Caleb trommelte im Takt auf das Lenkrad. »Dann singe ich das Lied für dich.«
»Ich weiß es nicht. In der Schule wurden keine Geburtstage gefeiert.« Alle Tage waren gleich, einer folgte auf den anderen. Wenn ich das süße Apfelbrot aß, das es manchmal gab, hatte ich mir im Stillen vorgestellt, es wäre wie die Torten in den Büchern der Bibliothek mit einer Kerze dekoriert. »Es weiß doch sowieso niemand, welches Datum wir haben.«
Caleb trat fester auf das Pedal unter dem Lenkrad und wir fuhren schneller. »Ich weiß es.«
»Ach ja?« Ich lächelte, denn ich glaubte ihm nicht. Mit den Fingern kämmte ich durch meine Haare. »Welcher Tag ist denn heute?«
»Der erste Juni!«, antwortete er. »Der Beginn eines neuen Monats.« Er klopfte mit den Knöcheln auf das Lenkrad. »Lass mal überlegen … wann könnte wohl dein Geburtstag sein? Du bist zu streitlustig, um Schütze zu sein …«
»Ich bin nicht streitlustig!«, rief ich. »Und was ist ein Schütze?«
Caleb lächelte schelmisch. »Empfindlich, hmm. Vielleicht bist du ein Krebs. Was hältst du von Juli?«
»Warum behauptest du, ich wäre empfindlich? Wovon redest du überhaupt, Krebs? Ist das nicht eine Krankheit?«
Im Nachmittagslicht konnte ich die kleinen Hautschuppen auf seiner Nase sehen, wo sich die sonnenverbrannte Haut schälte. »Astrologie ist sowieso ein Witz, das ist was für Bekloppte.« Er tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe und schloss die Augen.
Ich musste loslachen. »Ich möchte,
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