Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
verschwände, aber ihre Loyalität zu Cyrus ist stärker als ihr eigener Wunsch.
Das Schild der BART-Station wird in der Ferne sichtbar, das schwarz-blaue Logo der Schnellbahn ist zwar beleuchtet, aber verwaschen im Nebel. Als ich mich der Haltestelle Embarcadero nähere, sind deutlich mehr Fußgänger unterwegs, und ich muss mich durch die Menschen drängen. »Pass doch auf!«, ruft jemand, als ich weiterhaste.
Heute Abend spielen die Giants, und nahezu alle Leute um mich herum tragen die Vereinsfarben. Eine Frau in einem orange-schwarzen Trikot schiebt einen leeren Kinderwagen vor sich her. Ich schätze ihren Weg falsch ein, stolpere über den Buggy und stürze schmerzhaft auf den Gehsteig.
»Sera, bleib stehen!« Jareds Stimme hat einen panischen Unterton.
Wenn er mit leeren Händen zurückkommt, wird Cyrus sicher »ein ernstes Wörtchen« mit ihm reden. Ich weiß alles über die nur allzu realen Wunden, die dabei zurückbleiben.
Ich rappele mich auf und renne weiter, Jared und Amelia nur noch einen Block hinter mir. Ich blicke mich ein letztes Mal um und versichere mich, dass sie sehen, wie ich endlich den Eingang zur BART-Station erreiche und mich an den betrunkenen Baseball-Fans die Rolltreppen hinunterdrängele. Ich springe, ohne zu bezahlen, über die Absperrung, haste auf den zunehmenden Wind und das metallische Kreischen des Zuges zu, der ratternd in den Bahnhof einfährt.
Der Bahnsteig ist voller Giants-Fans, eine chaotische, orangefarbene, jubelnde Menge. Der Zug fährt in Richtung East Bay, und die Menschen quetschen sich in die Waggons. Ich begegne meinem Spiegelbild in einem der Fenster: gehetzter Blick, zerzauste Haare, zerrissenes Kleid, blutende Knie.
»Seraphina! Du. Sollst. Stehen. Bleiben.« Jareds Stimme ist drängend und viel zu dicht hinter mir.
Ich drehe mich um, blicke ihm in die Augen und schiebe mich in den Waggon. Man macht mir den Weg frei, und ich spüre, wie jemand meine Hand berührt. Ich atme scharf ein und blicke nach unten – aber es ist nur eine alte Frau, die auf dem Platz gleich neben der Tür sitzt.
»Geht es Ihnen gut, Liebes?«
Ich nicke schweigend, die Augen starr auf den Bahnsteig gerichtet. Amelia und Jared springen in den übernächsten Waggon.
»Türen schließen. Bitte zurückbleiben«, sagt der Zugführer.
Das ist mein Stichwort.
Das Rattern und Hupen des einfahrenden Zuges auf dem Gleis gegenüber ist alles, was ich höre. In dem Moment, als sich die Türen schließen, stürze ich aus dem Waggon und renne über den Bahnsteig. Den anderen Fahrgästen weiche ich aus und stelle mich in die erste Reihe, als sich die Türen des Zuges in Richtung Flughafen mit einem Zischen öffnen. An ein Fenster gelehnt, schiele ich auf den Zug Richtung East Bay, der noch am Bahnsteig steht. Jared und Amelia suchen immer noch nach mir.
Da entdeckt Amelia mich. Zum Glück setzt sich der Zug nach East Bay in diesem Moment in Bewegung und rollt aus dem Bahnhof. Damit sitzen die beiden für die lange Strecke unter der Bucht hindurch bis West Oakland darin fest, was mir gut zwanzig Minuten Vorsprung verschafft, falls sie mir tatsächlich folgen sollten.
Nach zwei Stationen steige ich zusammen mit einer Menschentraube an der Powell Street aus. Amelia und Jared werden annehmen, dass ich weiter in die Stadt hineinfahre, Richtung Flughafen. Doch wenn Cyrus aufwacht, wird er meine Nachricht finden und wissen, dass ich kein Flugzeug bestiegen habe.
Das Adrenalin hat sich mittlerweile verflüchtigt, und ich bin furchtbar erschöpft. Aber ich bin frei und kann meinen Plan, diese Nacht zu ihrem düsteren Ende zu bringen, weiter verfolgen. Der Wind ist abgeflaut, so dass sich der Nebel undurchdringlich über die Stadt gelegt hat. Häuserblöcke werden zu etwas Intimem, wie kleine, stille Räume. Der verwaschene Lichtstrahl einer Straßenlaterne trifft auf etwas Metallisches. Ich kneife die Augen zusammen – es ist das Auto. Ich hatte es in der Nähe unseres Apartments versteckt und es unter Tags hierhergefahren. Zwei durchweichte Strafzettel kleben auf der Windschutzscheibe, doch immerhin wurde der Wagen nicht abgeschleppt.
Den alten, staubigen Ford habe ich vor ein paar Wochen über Craigslist gekauft. Dem Verkäufer nannte ich einen erfundenen Namen und zahlte den geforderten Preis bar in einem Umschlag, ohne zu handeln, auch wenn er zu hoch war. Schon seit Jahren spare ich Geld – zehn Dollar hier, zwanzig Dollar dort –, immer nur kleine Beträge, die Cyrus niemals vermissen
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