Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
dass meine staubigen Überreste in die Natur zurückkehren und nicht bloß eine weitere Schmutzschicht in diesem alten Ford sind.
Ich beschließe, mir etwas zu trinken zu besorgen. Zugegeben, ich habe Angst, und ein Schluck Wein wird meine Nerven beruhigen, mir Mut einflößen, bevor ich mein Schicksal dem großen Nichts überantworte.
Im Saloon stelle ich meine Tasche auf dem Boden ab und gleite auf einen stabilen Barhocker aus Eiche, wobei ich den beiden älteren Männern, die schweigend nebeneinandersitzen, kurz zulächele. Nach einem Moment wenden sie den Blick ab und widmen sich wieder ihrem Bier. Ich sehe mich im Spiegel hinter der Bar, meine hohen Wangenknochen und das dunkle Haar, und verstehe ihr kurzfristiges Interesse. Selbst im Angesicht des Todes bin ich wunderschön.
Der Barkeeper wischt den Tresen ab und wirft eine Papierserviette vor mich hin. Er ist klapperdürr, Tätowierungen ranken sich seine Arme hinauf, und seine Augen blicken müde. Er erinnert mich ein wenig an Jared. »Was darf’s denn sein?«, fragt er ausdruckslos.
»Ein Glas Rotwein, bitte.«
»Dann brauche ich deinen Ausweis.«
Ich sehe ihn an. »Ist das wirklich notwendig?«
Als er meinen Blick nur starr erwidert, ziehe ich seufzend den Ausweis aus der Tasche, der zu meinem Gesicht passt: Jennifer Combs, zweiundzwanzig Jahre. Der Barkeeper betrachtet die Plastikkarte ganz genau, und einen albernen Moment lang erwäge ich, ihm mein wahres Alter zu sagen, nur um seiner Reaktion willen. Doch ich reiße mich zusammen. Ich darf nicht unnötig Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
Der Barkeeper gibt mir das laminierte Kärtchen zurück und kümmert sich um meinen Rotwein. Jennifer Combs – den Namen hat Cyrus ausgesucht, als ich diesen Körper übernahm – wandert zurück in die Tasche. Ich werde sie nicht mehr brauchen.
»Danke.« Ich nehme einen tiefen Schluck meines letzten Drinks auf Erden, dann lehne ich mich zurück und sehe mich um.
Die Bar ist alt, mit einer kunstvoll gravierten Zinndecke unter einer Vielzahl abblätternder Farbschichten. Sitznischen aus brüchigem blauem Vinyl säumen die Wände, Holzstühle stehen wie zufällig über den Linoleumboden verteilt.
In einer Ecke ist ein dünnes Mädchen mit zotteligen schwarzen Haaren und Federohrringen in ein hitziges Gespräch mit einem dunkelhaarigen Jungen vertieft. Sie trägt ein leuchtend rotes T-Shirt, und auf ihren Armen sind verräterische Narben. Mein Magen verkrampft sich.
Das Mädchen schlägt dem Jungen gegen die Schulter. »Lass mich raus!«, verlangt sie.
»Taryn, bitte«, fleht er mit leiser Stimme und packt sie am Arm. »Beruhige dich.«
Taryn beißt die Zähne zusammen, an ihrer Schläfe pocht eine Ader vor Wut.
»Ich meine es ernst, Dan. Lass mich raus.«
Der Junge seufzt tief, aber dann lässt er sie aus der Sitznische gehen. Taryn senkt den Kopf, das Gesicht hinter dem strähnigen Haar verborgen, und geht steif quer durch die Bar.
»Die Kleine will unbedingt sterben«, sagt der Barkeeper mit sorgenvoll gefurchter Stirn.
Ich beobachte, wie Taryn die Eingangstür aufdrückt und in die Nacht verschwindet. »Scheint so«, erwidere ich.
Als der Barkeeper ein paar Drinks auffüllt, nutze ich die Gelegenheit, und schon stehe ich mit meiner Tasche im Freien, in der nebligen Nacht. Mir ist schwindelig vom schnellen Aufstehen, aber mein Kopf ist klar, und mit einem Mal bin ich froh, dass ich in die Bar gegangen bin.
Ich habe unzählige Taryns gekannt – Mädchen, die nichts haben, wofür es sich zu leben lohnt, die einfach nur sterben wollen. Ich erkenne sie überall, kann ihre Verzweiflung förmlich riechen. Früher waren sie meine Beute; ohne die Taryns dieser Welt hätte ich all die Jahre nicht überlebt. Doch ich schwöre, dass heute Nacht nur einer sterben wird, und das wird nicht sie sein. Taryn zu retten wird eine kleine Wiedergutmachung für all die Leben sein, die ich genommen habe.
Kapitel 7
T aryn läuft genau vor mir her, mal mehr und mal weniger deutlich im Nebel zu sehen. Rote und orangefarbene Lichter beleuchten ihre dünne Gestalt von hinten. Sie stolpert, verliert das Gleichgewicht – betrunken, wenn nicht zugedröhnt.
Ich halte mich im Schatten und folge ihr leise, während die Straßen auf den Oakland Estuary zulaufen, jene Bucht, die Oakland und Alameda trennt. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen, trotz der neu gebauten Wohnkomplexe, die unverkauft über den verrottenden Lagerhäusern aufragen.
Das Mädchen geht unsicher auf
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