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Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)

Titel: Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Avery Williams
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Schritt auf den Rand zu, trete in Taryns Fußstapfen. Wenn ich mit Anlauf springe, sollte ich das Wasser erreichen können. Zuerst jedoch hole ich das Buch von Cyrus und ein Feuerzeug aus meiner Tasche. Dieses Wissen wird mit mir sterben. Der Einband ist aus leuchtend blauem Leder. Er erinnert mich an Cyrus’ Augen, die ich schon in jeder Blauschattierung gesehen habe. Zurzeit sind sie eisblau, wie der schneebedeckte Teil eines Gletschers. Als ich ihn damals in London kennenlernte, hatten sie die Farbe dieses Bucheinbandes. Das tiefe Blau des Morgenhimmels vor dem Sonnenaufgang. Mit einer fließenden Bewegung schlage ich das Buch zwischen meinen Füßen gegen die Metallplattform, und das Schloss bricht auf.
    Die Seiten bestehen aus dickem, weichem Pergament. Der Geruch katapultiert mich zurück in die Zeit, als ich mit meinem Vater in seinem Arbeitszimmer saß, während er seine Bilanzen führte. Dann erkenne ich mit sinkendem Mut, dass die Seiten nicht brennen werden. Mein Vater hat mir erklärt, dass Pergament aus Tierhaut hergestellt wird und nicht wie modernes Papier aus Pflanzenfasern. Daher hat das Buch, das mindestens so alt ist wie Cyrus, die Jahrhunderte so gut überstanden.
    Ich lasse die Hand über die Seiten gleiten. Sie beinhalten Texte auf Latein, Altgriechisch, Altenglisch und in einigen anderen Sprachen, die ich nicht erkenne, illustriert mit astrologischen und wissenschaftlichen Symbolen: das Ergebnis von Cyrus’ alchemistischen Studien. Auf einer Seite befindet sich eine grobe Skizze zweier Gestalten, die sich gegenüberstehen und durch eine geflochtene Schnur am Bauchnabel verbunden sind. Sie ist sorgfältig mit Tinte schraffiert. Ich erkenne es sofort: die silberne Schnur, die unsere Seele mit unserem Körper verbindet.
    Ich kann das Buch nicht verbrennen, aber ich kann es mit ins Meer nehmen. Das Wasser wird das Seinige tun und die Tinte fortwaschen. Das Buch fest an die Brust gedrückt, kneife ich die Augen zusammen und vergieße ein paar Tränen, als ich meine Abschiedsworte spreche – an meine Ersatzfamilie, die Wiedergeborenen, Charlotte und meine Mutter gerichtet, von der ich mich bei meinem ersten Tod nicht verabschieden konnte. Ich koste den Moment voll und ganz aus, während der Wind wie eine Hymne durch den Kran pfeift.
    Ein letztes Mal denke ich an die Dinge, die mir während meines langen Daseins am wichtigsten waren.
    Ich bin bereit.
    Bevor ich mich in die Luft werfen kann, höre ich das Kreischen von über den Asphalt schlitternden Autoreifen und das Splittern von Glas durch die Nacht hallen wie einen Gewehrschuss. Eine verängstigte Mädchenstimme schreit laut auf. Ich wirbele herum, blicke panisch in die Dunkelheit. Nur eines kann solche Geräusche verursachen: ein Autounfall – ein tödlicher.
    Taryn.

Kapitel 8
    D ie einsetzende Stille umhüllt mich, eine dunkle, formlose Präsenz, die mich in Richtung der Leiter treibt. Ich muss überprüfen, ob die Stimme Taryn gehört hat, ob meine Wiedergutmachung, meine letzte Tat auf Erden, fehlgeschlagen ist.
    Die Zeit ist von größter Wichtigkeit, und meine Kraft schwindet mit jeder Sekunde, weshalb ich das Buch rasch zurück in die Tasche packe und beides auf dem Kran zurücklasse, um so schnell wie möglich nach unten klettern zu können. Meine Turnschuhe rutschen auf den feuchten Stangen ab, mein Atem geht abgehackt und keuchend. Ich taumele auf die verlassenen Straßen zu.
    Der beißende Geruch nach Rauch und verbranntem Gummi, vermischt mit Benzin, peinigt meine Nase. Mein Puls rast, meine Beine zittern, mein Sichtfeld verschwimmt wieder. Ich biege um eine Ecke und stolpere über ein Schlagloch in dem glitschigen Asphalt. Mein Knöchel gibt unter mir nach.
    »Verdammt«, schimpfe ich leise vor mich hin.
    Vor mir sehe ich das Auto. Flammen schlagen aus der Motorhaube und werfen seltsame orangefarbene Schatten auf die rostigen, verbeulten Türen des Ladedocks. Das Auto steht auf allen vier Rädern, doch die von einem Spinnennetz aus Rissen überzogene Windschutzscheibe deutet darauf hin, dass sich der Wagen mindestens einmal überschlagen haben muss. Der Kupfergeruch von Blut steigt mir in die Nase. Schwindelerregend, überwältigend – er ist überall.
    Ich packe den Türgriff, sammle meine letzten verbliebenen Kräfte und ziehe daran. Als er nicht nachgibt, habe ich einen Moment lang das Gefühl, gar nicht hier, sondern tot zu sein, ein Geistermädchen, das lächerlicherweise versucht, Dinge in der realen Welt zu bewegen.

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