Everlight: Das Buch der Unsterblichen. Roman (German Edition)
im Stillen hinzu.
Er wollte nicht, dass ich heute Abend weggehe – »Für die Party ist noch einiges zu organisieren, Sera«, hat er gesagt –, aber dann hat er meinen Bitten doch nachgegeben. Er kann nie lange widerstehen, wenn ich die Unterlippe auf diese ganz bestimmte Art vorschiebe. Kindisch, ich weiß, aber es hat funktioniert, und ich brauche einfach einen letzten Abend mit meiner besten Freundin.
Als wir die Eisdiele betreten, hüllt mich der kalte, süße Geruch sofort ein. Das Michael’s sieht aus, als hätte ein Tornado es aus dem Mittleren Westen nach San Francisco getragen. Bemalte Holzlaubsägefiguren von Hühnern, Kühen und Mais säumen die Wände, und an der Decke hängt eine Kette aus rostigen Zinnmelkeimern. Außer uns befindet sich nur das Mädchen hinter dem Tresen im Raum. Ihr Haar hat die Farbe des Blue-Moon-Sorbets, und zwei kleine Piercings stechen wie Fangzähne aus ihrer Unterlippe heraus. Sie unterbricht ihr geflüstertes Handytelefonat gerade so lange, um uns die beiden Eistüten auszuhändigen.
Charlotte und ich setzen uns an unseren Stammplatz, zwei Stühle mit Sicht durch die Frontscheibe, damit wir die Passanten beobachten können.
»Gerald, 1913«, sagt sie plötzlich und deutet auf einen Mann Mitte vierzig mit einem Doppelkinn und dicken Haarbüscheln in den Ohren.
Dieses Spiel spielen wir ständig. Auch wenn wir unseres Wissens nach die einzigen Wiedergeborenen auf der Welt sind, fragen wir uns immer, ob es nicht noch einen anderen Weg in die Unsterblichkeit gibt, vielleicht durch einen Stein der Weisen, der es einem erlaubt, seinen ursprünglichen Körper zu behalten. Wir beobachten die Menschen auf der Straße und im Fernsehen und überlegen, wer aus unserer Vergangenheit sie sein könnten.
Ich runzele die Stirn. »Nein, Gerald hatte Nasenhaare.«
»Ah, stimmt«, erwidert Charlotte schnaubend und nimmt einen Bissen von ihrem Mokka-Schokolade-Eis.
Da Freitagabend ist, zieht ein stetiger Strom an Wollmützen tragenden Teenagern und Singles auf dem Weg zu ihren Dates an uns vorbei, doch niemand kommt uns bekannt vor.
Nach ein paar Minuten spreche ich die Frage laut aus, die mich seit meiner Entscheidung zu sterben verfolgt. »Glaubst du an wirkliche Wiedergeburt?«
Charlotte sieht mich mit ihren haselnussbraunen Augen an. »Was meinst du damit?«
»Was passiert deiner Meinung nach mit den Seelen der Menschen, wenn sie sterben? Verpuffen sie einfach, oder werden sie in neuen Körpern wiedergeboren, ohne eine Erinnerung an ihre Vergangenheit? Uns gibt es schon so lange, würden unsere Seelen überhaupt wissen, wie sie weiterzuwandern hätten?«
Charlotte beißt von ihrer Waffel ab und kaut nachdenklich. »Du weißt, was Cyrus dazu sagt.«
Das weiß ich in der Tat. Er hat mir seine Theorie 1666 dargelegt, als wir während des großen Brandes in London in einem Boot auf der Themse saßen. Während wir zusahen, wie die Welt um uns herum brannte, gestand ich ihm, manchmal sterben zu wollen, um zu meinen Eltern in den Himmel zu kommen. Da flammte seine Wut plötzlich auf, das Feuer loderte in seinen Augen, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich wirklich Angst vor ihm.
»Die Seele ist nur eine Konzentration von Energie, die durch den Willen oder in unserem Fall durch jahrelange Übung zusammengehalten wird«, sagte er mit Nachdruck. »Unsere wiedergeborenen Seelen sind nicht wie die menschlichen. Sie sind stärker.«
»Aber …«, setzte ich an.
Seine Fingernägel bohrten sich so fest in meinen Arm, dass die Wunden zu bluten begannen. »Es gibt für Menschen kein Leben nach dem Tod, aber deine Seele ist stark. Viel zu stark. Wenn du getötet wirst, Seraphina, wird deine Seele weiterwandern wollen, aber nach all den Jahren, in denen sie nicht vollständig war, wird sie nicht wissen, was sie tun soll. Du wirst zu einem hungrigen Geist werden, der nicht mit der realen Welt in Verbindung treten kann.«
Die Vorstellung, als Geistwesen auf der Erde zu bleiben, erschreckte mich, und ich drängte mich schutzsuchend an Cyrus, während meine Heimatstadt um mich herum zerfiel.
Doch jetzt, da ich meiner eigenen Sterblichkeit ins Auge blicke, muss ich mich fragen: Woher will er wissen, was danach kommt? Hat er das alles nur gesagt, damit ich aus Angst bei ihm bleibe und er nicht allein ist?
»Es ist mir egal, was Cyrus sagt«, antworte ich, während ich ein junges Paar beobachte, das sich kurz unter einer Straßenlaterne küsst. »Ich will wissen, was du denkst.«
In der
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