Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
Und ganz egal, wie sehr sich Damen auch langweilt, ganz egal, wie oft er mich bittet, alles sausen zu lassen, damit wir unser gemeinsames Leben beginnen können, tue ich es nicht. Kann es nicht. Aus irgendeinem sonderbaren Grund will ich einfach, dass wir beide unseren Schulabschluss machen.
Ich will das Abschlusszeugnis in der Hand halten und meine Mütze in die Luft werfen.
Und heute machen wir den ersten Schritt in Richtung auf dieses Ziel.
Lächelnd und nickend dränge ich ihn weiterzufahren, und als ich eine Spur von Unbehagen über sein Gesicht
ziehen sehe, erwidere ich seinen Blick mit neu gewonnenem Selbstvertrauen und Kraft. Ich recke die Schultern und fasse mein Haar zu einem tief im Nacken sitzenden Pferdeschwanz zusammen, streiche die Falten in meinem Kleid glatt und wappne mich für die bevorstehende Schlacht.
Obwohl ich nicht genau weiß, was kommt oder was genau ich zu erwarten habe, obwohl ich in meine eigene Zukunft nicht ebenso leicht sehen kann wie in die aller anderen, weiß ich eines doch hundertprozentig sicher: Nämlich dass mich Haven nach wie vor für Romans Tod verantwortlich macht.
Mich nach wie vor für alles verantwortlich macht, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist.
Und sie ist wild entschlossen, ihr Versprechen, mich zu ruinieren, einzulösen.
»Glaub mir, ich bin mehr als bereit.« Ich sehe aus dem Seitenfenster und suche die Menge nach meiner einst besten Freundin ab, da es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie den ersten Schritt tut, und ich hoffe, dass ich die Chance bekomme, das Blatt zu wenden, ehe wir uns alle beide zu etwas hinreißen lassen, das wir zwangsläufig bereuen werden.
VIER
W ir sehen sie erst in der Mittagspause.
Alle sehen sie.
Sie ist nicht zu übersehen.
Wie ein unerwarteter Wirbel aus eisblauem Frost, wie eine raffinierte Eisskulptur mit scharfen Kurven. Sie ist so verführerisch, auffällig und faszinierend wie ein plötzlicher winterlicher Windhauch an einem heißen Sommertag.
Eine große Traube von Mitschülern umschwärmt sie – dieselben Leute, die sie früher ignoriert haben.
Doch jetzt kann man sie nicht mehr ignorieren.
Niemand ignoriert ihre überirdische Schönheit, ihre unwiderstehliche Anziehungskraft.
Sie ist nicht mehr die Haven, die sie einmal war. Sie ist eine völlig andere. Verwandelt.
Wo sie einst blass war, strahlt sie jetzt.
Wo sie einmal abstieß, zieht sie jetzt an.
Und das, was in meinen Augen immer ihr altbekannter Rock’n’Roll-Gypsy-Look war, mit schwarzem Leder und Spitzen, hat nun einer Art sinnlich-verführerischem, leicht morbidem Glamour Platz gemacht. Wie die arktische Version einer dunklen, trauernden Braut trägt sie ein langes, eng anliegendes Kleid mit tiefem V-Ausschnitt, weiten langen Ärmeln und einer Schleppe aus mehreren Schichten eines seidenweichen blauen Stoffs, die über den Boden streift, während ihr Hals sich unter der Last von Bergen von
Schmuck fast beugt – eine Kombination aus glänzenden Tahitiperlen, glitzernden Saphiren im Cabochonschliff, wuchtigen Türkisen und Trauben von auf Hochglanz geschliffenen Aquamarinen, dazu das pechschwarze Haar, das ihr in lockeren, glänzenden Wellen bis zur Taille fällt. Die platinblonde Strähne, die sie früher einmal im Pony trug, hat nun den gleichen kobaltblauen Farbton wie ihre Fingernägel, ihr Eyeliner und der Edelstein an dem Punkt direkt über und genau zwischen ihren Brauen.
Ein Look, den sich die alte Haven niemals hätte erlauben können. Man hätte sie aus der Schule hinausgelacht, noch ehe es zur ersten Stunde geläutet hätte. Doch die Zeiten sind vorbei.
Ich murmele etwas Unverständliches vor mich hin, während Damen die Hand nach mir ausstreckt. Er umfasst meine Finger in einer Geste, die mir Geborgenheit vermitteln soll, doch wir sind ebenso fasziniert wie alle anderen Mitschüler. Wir sind außer Stande, den Blick vom Schein ihrer ultrablassen Haut abzuwenden, die aus einem Meer aus Schwarz und Blau herausleuchtet, was einen merkwürdig fragilen, ätherischen Look ergibt, der über ihre erbitterte innere Entschlossenheit komplett hinwegtäuscht.
»Das Amulett«, flüstert Damen und wirft mir einen Blick zu, ehe er wieder Haven ansieht. »Sie trägt es nicht; es ist weg.«
Ich mustere augenblicklich ihren Hals und studiere das komplizierte Gewirr aus dunkel glitzernden Schmuckstücken, bis ich erkenne, dass er Recht hat. Das Amulett, das wir ihr gegeben haben, das sie vor Unheil beschützen, sie vor mir beschützen soll, fehlt.
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