Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
genau überlegst, bist du noch ziemlich gut weggekommen, würde ich sagen.« Er lacht und wirft mir einen Blick zu, der praktisch einer Aufforderung gleichkommt, es leichtzunehmen und mitzulachen, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Eines Tages kann ich das vielleicht lustig finden, doch dieser Tag existiert in einer weit entfernten Zukunft, die ich noch nicht sehe.
»Glaub mir«, sage ich und lege meine Hand auf seine, nicht ohne den vibrierenden Energieschleier zwischen uns zu registrieren. »Sie hat es auch mit Hausarrest versucht, doch da war sie bei mir an der falschen Adresse. Ich meine, es ist einfach unfair, dass ich sie und die Schwarz-Weiß-Welt, in der sie lebt, von vornherein akzeptieren soll, während sie mir überhaupt keine Chance gibt, mich zu erklären. Sie ist nicht einmal bereit, meinen Standpunkt auch nur in Betracht zu ziehen, sondern stempelt mich automatisch zu einem verrückten, bedürftigen, überspannten Teenager ab, nur weil ich zufällig Fähigkeiten besitze, die in ihrem engstirnigen Denken keinen Platz haben. Und manchmal macht mich das so wütend, dass ich echt …« Ich halte inne und presse die Lippen fest zusammen, da ich nicht weiß, ob ich es wirklich laut aussprechen soll.
Damen sieht mich abwartend an.
»Manchmal-kann-ich-es-gar-nicht-erwarten-bis-dieses-Jahrum-ist-und-wir-die-Schule-hinter-uns-haben-und-irgendwo- hin-ganz-weit-weg-gehen-können-wo-wir-unser-eigenes-Lebenführen-und-das-alles-hinter-uns-lassen-können. « Ich stoße die Worte so hastig hervor, dass sie alle ineinander übergehen und sich eines praktisch nicht mehr vom anderen trennen
lässt. »Ich meine, ich habe ein schlechtes Gewissen dabei, erst recht nach allem, was sie für mich getan hat, aber Tatsache ist doch, dass sie nicht einmal die Hälfte davon weiß, was ich alles tun kann. Sie weiß bloß, dass ich übersinnliche Kräfte habe – weiter nichts! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn ich ihr die ganze Wahrheit sage? Dass ich unsterblich bin und körperliche Kräfte habe, die sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen kann? Wie zum Beispiel die Macht der sofortigen Manifestation, ach und nicht zu vergessen die kleine Zeitreise, die ich neulich unternommen habe, ganz zu schweigen davon, dass ich meine Freizeit gern in der reizenden, etwas abgelegenen, alternativen Dimension namens Sommerland verbringe, wo ich in Kostümen aus vergangenen Epochen mit meinem unsterblichen Freund herumknutsche. Kannst du dir vorstellen, wie sie das aufnehmen würde?«
Damen sieht mich lächelnd an, und seine Augen glitzern auf eine Art, die mich augenblicklich mit Kribbeln und Hitze erfüllt. »Was hältst du davon, wenn wir das lieber gar nicht erst ausprobieren?«, fragt er.
Er hält an der Ampel und zieht mich an sich. Seine Lippen streifen über meine Stirn, meine Wange und meinen Hals, bis sie endlich, endlich mit meinen verschmelzen.
Nur Sekundenbruchteile, ehe die Ampel grün wird, löst er sich von mir, sieht mich noch einmal an und fragt: »Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst?«
Die Wärme seines tiefen Blicks brennt sich ein bisschen länger als nötig in meine Augen ein. Er lässt mir genug Zeit, um Nein zu sagen, zu sagen, dass ich noch nicht bereit bin, ja noch nicht einmal nahe daran, damit er wenden und woandershin fahren kann. Irgendwohin, wo es schöner, freundlicher, wärmer ist – zum Beispiel an einen weit
entfernten Strand oder vielleicht sogar zu einem geheimen Ort im Sommerland –, weil er noch die schwache Hoffnung hegt, dass ich dann einwillige.
Er ist längst über die ganze Highschool-Szene hinaus – schon seit Jahrhunderten. Ich bin der einzige Grund, warum er hier ist. Der einzige Grund, warum er bleibt. Und jetzt, da wir zusammen sind, glücklich vereint nach mehreren schmerzhaften Jahrhunderten, in denen wir wieder und wieder auseinandergerissen wurden, begreift er einfach nicht, was für einen Sinn das alles haben soll. Sieht es als eine Art nutzlose Scharade an.
Und obwohl ich den Sinn auch nicht immer begreife, da es ziemlich schwierig ist, überhaupt irgendetwas zu lernen, wenn einem das Wissen einfach zufließt, indem man die Gedanken der Lehrer liest oder eine Hand auf ein Buch legt und so dessen Inhalt in sich aufsaugt, bin ich trotzdem fest entschlossen, dabeizubleiben und meinen Abschluss zu machen.
Vor allem weil es so ziemlich der einzige Teil meines reichlich bizarren Lebens ist, der auch nur halbwegs normal ist.
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