Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
keinerlei Zweifel.«
Er sieht zwischen uns hin und her, sein Gesicht eine Maske aus düsteren Vorahnungen, und schwankt offenbar zwischen seinem eigenen nagenden Zweifel und seinem Wunsch, mir zu glauben. Trotz meiner anhaltenden Beteuerungen hindern ihn seine Ängste um meine Sicherheit, seine Überzeugung, er sei dadurch, dass er damals mich verwandelt hat, ganz allein für sämtliche unangenehmen Folgen verantwortlich, daran, lockerzulassen.
»Okay, aber eines noch …« Er fasst mich am Kinn, bis ich ihm direkt in die Augen schaue. »Vergiss nicht, dass sie wütend, mächtig und skrupellos ist – eine extrem gefährliche Mischung.«
Ich nicke und antworte wie aus der Pistole geschossen: »Tja, das mag sein, aber vergiss du nicht, dass ich meine
Mitte gefunden habe, mächtiger bin und über erheblich mehr Kontrolle verfüge, als sie je haben wird. Was bedeutet, dass sie mich nicht verletzen kann. Ganz egal, wie sehr sie es auch will – ganz egal, wie sehr sie es auch versucht –, sie wird nicht die Oberhand erringen. Ganz zu schweigen davon, dass ich etwas habe, was sie nicht …«
Er sieht mich aus schmalen Augen an. Diese Abweichung von dem Drehbuch, das wir so oft geprobt haben, hat er nicht kommen sehen.
»Dich. Ich habe dich. Für immer und ewig, nicht wahr? Oder zumindest hast du das gestern Abend gesagt, als du versucht hast, mich auf dem englischen Land zu verführen …«
»Ach, dann war es also ich , der versucht hat, dich zu verführen? Bist du dir da ganz sicher?« Er lacht, schließt die Augen und drückt seine Lippen auf meine, zuerst ganz sanft, dann fordernder. Er küsst mich auf eine Weise, die meinen ganzen Körper von der kribbelnden Hitze entflammen lässt, die nur er auslösen kann, nur um sich ebenso schnell wieder zurückzuziehen, da er weiß, dass wir uns dadurch nicht vom Wesentlichen ablenken lassen dürfen.
Das alles kann warten. Haven nicht.
Ich habe mich kaum wieder gefasst, als sich Miles aus der Menge löst, Havens Tisch verlässt und auf uns zukommt. Wenige Meter entfernt bleibt er stehen, dreht sich rasch einmal um sich selbst und lässt sich im Dreihundertsechzig-Grad-Winkel von allen Seiten betrachten, ehe er in Modelpose stehen bleibt, einen stählernen Blick aufsetzt, den Mund zur Schnute verzieht und die Hände in die Hüften stemmt.
»Fällt euch irgendein Unterschied auf?« Er schaut hektisch vom einen zum anderen. »Seht mir bitte nach, wenn ich das sage, aber Haven ist nicht die Einzige, die diesen
Sommer eine Verwandlung erfahren hat, wisst ihr?« Er gibt die Pose auf und kommt näher. »Also, für den Fall, dass ihr mich vorhin nicht verstanden habt, gestattet mir, mich zu wiederholen. Fällt. Euch. Irgendein. Unterschied. Auf?« Er spricht jedes Wort langsam und gedehnt und überdeutlich aus.
Und als ich ihn ansehe – als wir ihn ansehen –, ist es, als käme alles mit kreischenden Bremsen zu einem abrupten Stopp. Alles Atmen, Blinzeln und Herzklopfen geht augenblicklich über in hilfloses, verlegenes Glotzen mit aufgerissenen Mündern. Macht uns zu nichts weiter als zwei erstarrten Unsterblichen, die Seite an Seite dasitzen und sich fragen, ob sie einen dritten vor sich haben.
»Na, kommt schon, sagt mir, was ihr denkt«, säuselt Miles und dreht noch eine Pirouette, bevor er sich erneut in eine Pose wirft, die er zu halten gedenkt, bis einer von uns spricht. »Holt hat mich gar nicht wiedererkannt.«
Was ich denke? Ich denke, das Wort »anders« beschreibt seine Verwandlung nicht einmal ansatzweise. Ich werfe Damen einen raschen Blick zu, dann wende ich mich wieder Miles zu. Mann, nicht einmal »völlig verändert« oder »wie ausgewechselt« trifft es auch nur annähernd! Ich schüttele den Kopf.
Die braunen Haare, die er, seit ich ihn kenne, kurz getragen hat, sind jetzt länger und welliger, fast wie bei Damen. Und der Babyspeck, der früher seine Wangen gepolstert hat und ihn um gut zwei Jahre jünger aussehen ließ, ist komplett verschwunden und hat den Weg frei gemacht für Dinge wie Wangenknochen, ein kantiges Kinn und eine markantere Nase. Selbst seine Kleidung, die eigentlich immer noch wie früher aus Jeans, Schuhen und Hemd besteht, wirkt irgendwie anders – neuartig – und völlig umgekrempelt.
Wie eine Raupe, die ihren zerzausten Kokon abgeworfen hat, um ihre neuen und schöneren Schmetterlingsflügel zu zeigen.
Und gerade als ich das Schlimmste denke – nämlich, dass Haven ihn lange vor mir erwischt hat –, sehe ich es. Wir
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