Evermore - Der Stern der Nacht - Noël, A: Evermore - Der Stern der Nacht
macht und ihn ausgiebig von Kopf bis Fuß mustert, »du und ich unterhalten uns später. Du hast mir ein paar ernsthafte Erklärungen zu geben.«
FÜNF
O ffenbar war ich so auf Haven fixiert, dass ich an meine anderen Heimsuchungen gar nicht mehr gedacht habe – namentlich Stacia Miller und ihre treue Verbündete Honor.
Doch als ich in der sechsten Stunde in den Physikunterricht gehe, sich hinter mir die Tür schließt und die Glocke läutet, ruft mir das Geräusch ihres unterdrückten Gekichers sofort alles wieder lebhaft in Erinnerung.
Ich gehe rasch auf die Mitte zu und lächele bei meinem kurzen Blick auf Stacias schockierte Miene vor mich hin, als ich den ihnen am nächsten gelegenen freien Platz einnehme. Ich meine, warum soll ich sie dazu zwingen, sich die Hälse zu verrenken, um mich besser zu sehen, wenn ich genauso gut einen Tisch wählen kann, der ihnen eine wesentlich bessere, wesentlich klarere und völlig ungehinderte Sicht auf das Lieblingsobjekt ihrer Quälereien – nämlich mich – bietet?
Doch lediglich Stacia zeigt sich von meiner Wahl schockiert. Honor nimmt es sportlich. Sie setzt sich ein bisschen aufrechter hin, zieht eine Braue hoch und mustert mich mit einem so vorsichtigen, so zwiespältigen Blick, dass ich ihn fast nicht entschlüsseln kann.
Fast .
Allerdings konzentriere ich mich weit weniger auf ihren Gesichtsausdruck als auf die Gedanken, die ihr durch den
Kopf gehen. Gedanken, die sie direkt an mich richtet, da sie richtigerweise annimmt, dass ich sie belausche.
Ich weiß, dass du mich hören kannst. Ich weiß alles über dich. Und ich weiß, dass du weißt, was ich Stacia antun will. Was ich plane, um sie für jede Gemeinheit büßen zu lassen, die sie jemals mir oder einem anderen Unglücklichen angetan hat, der sich ihr in den Weg gestellt hat. Was ich nicht weiß, ist, ob du mir helfen oder mich aufhalten willst. Aber nur für den Fall, dass du mich aufhalten willst, da solltest du wirklich noch mal drüber nachdenken. Erstens ist sie von Anfang an total fies zu dir gewesen, und zweitens, tja, selbst wenn du versuchen willst, mich aufzuhalten, du schaffst es nicht. Nicht du, nicht Jude, und erst recht nicht Stacia, also lässt du am besten gleich die Finger davon …
Und obwohl sie mich direkt ansieht und nach irgendeiner Reaktion giert, einer Art Bestätigung dafür, dass ich ihre Botschaft klar und deutlich vernommen habe, habe ich nicht die Absicht, ihr diese Genugtuung zu gönnen. Nicht die Absicht, mir noch mehr anzuhören, als ich bereits gehört habe.
Neben ihrem jämmerlichen, von Rachedurst getriebenen Manifest, Stacias gewohnt gehässigem innerem Monolog und Mr. Bordens stillem Lamento darüber, dass er nun ein weiteres Jahr seines Lebens an eine frische Ladung undankbarer, desinteressierter Schüler verschwenden muss – ein peinliches Sortiment schlechter Frisuren und noch schlechterer Kleidung, zudem völlig ununterscheidbar von denen, die vor ihnen kamen und gingen – zwischen all dem und den privaten Dramen und Ängsten aller anderen ist das Stimmengewirr einfach zu groß.
Zu deprimierend.
Und total erschöpfend.
Also blende ich alles aus – zugunsten einer kleinen telepathischen
Kommunikation mit Damen quer über den Campus.
Sechste Stunde Physik, alles okay, und bei dir? , denke ich und bereite mich darauf vor, die Hand zu heben, wenn mein Name innerhalb der Klassenliste verlesen wird. Ich bin es gewöhnt, eine der ersten im Alphabet zu sein, schließlich heiße ich mit Nachnamen Bloom.
Kunst. Super als letzte Stunde des Tages – da hab ich etwas, worauf ich mich freuen kann. Wenn doch nur der ganze Tag eine einzige lange Kunststunde sein könnte. Oh, und Ms. Machado ist total begeistert davon, dass ich wieder ihr Schüler bin. Hat sie mir selbst gesagt. Noch nie hat sie bei einem so jungen Menschen ein solches Talent gesehen, eine so natürliche Begabung. Sie will sich extra eine Stunde Zeit nehmen, um mit mir über meine Zukunft zu sprechen und darüber, an welchen Kunstakademien ich mich bewerben soll.
Und was ist mit mir? Hat sie die unbegabteste, ungeschickteste Schülerin grüßen lassen, die sie je erlebt hat? Oder hat sie mich gezielt aus ihrem Gedächtnis gestrichen?
Sei nicht so streng mit dir. Deine van-Gogh-Imitation war unglaublich einzigartig.
Wenn du mit einzigartig grottenscheußlich meinst, dann ja, da hast du Recht! Richte ihr auf jeden Fall aus, dass ich auf eine zweite Runde verzichte. Ich muss mein Selbstbewusstsein
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