Evernight Bd.1 Evernight
noch mehr, als es sonst bei Fremden immer der Fall war.
»Wir sehen uns heute Abend auf dem Gelände um«, sagte sie - natürlich zu Patrice, nicht zu mir. »Um was zu essen. Ein Picknick, könnte man sagen.«
Die Mahlzeiten in Evernight sollten in den Schülerzimmern eingenommen werden. Offenkundig versuchten sie, es als »Tradition« zu verkaufen, ganz so wie in den früheren Tagen, bevor irgendjemand die Cafeteria erfunden hatte. Die Eltern würden Päckchen schicken, um die spartanischen Vorräte aufzustocken, die jede Woche zugeteilt wurden. Das bedeutete, dass ich kochen lernen musste, und zwar mit Hilfe der kleinen Mikrowelle, die mir meine Eltern gekauft hatten. Patrice machte sich über derart weltliche Fragen offenbar keinen Kopf. »Klingt lustig. Findest du nicht, Bianca?«
Courtney warf ihr einen scharfen Blick zu; augenscheinlich war ihr Angebot nicht als offene Einladung zu verstehen gewesen.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich muss mit meinen Eltern essen. Aber danke, dass ihr mich fragt.«
Courtneys leicht wulstige Lippen wirkten fast makaber, als sie sie zu einem Grinsen verzog. »Du willst tatsächlich noch mit Mummy und Daddy rumhängen? Was denn, ziehen sie dich noch mit der Flasche groß?«
» Courtney «, tadelte Patrice sie, aber ich konnte sehen, dass sie amüsiert war.
»Du musst mal Gwens Zimmer sehen.« Courtney zog Patrice durch die Tür. »Dunkel und trostlos. Sie schwört, es könnte auch genauso gut ein Verlies sein.«
Gemeinsam gingen sie weg, und die zarten Bande, die Patrice und ich zu knüpfen begonnen hatten, waren im Handumdrehen wieder zerrissen. Ihr Gelächter hallte im Flur wider. Meine Wangen brannten, als ich nun ebenfalls rasch das Zimmer verließ, aus dem Stockwerk mit den Schlafzimmern floh und hinaufstürmte, um in der Wohnung meiner Eltern Zuflucht zu finden.
Zu meiner Überraschung ließen sie mich rein, ohne einen Aufstand zu machen. Sie fragten nicht einmal, warum ich so früh kam. Stattdessen nahm mich Mum fest in den Arm, und Dad sagte: »Guck doch mal, was wir bislang für dich eingepackt haben, ja? Ein bisschen was ist noch für dich zu tun, aber wir haben schon mal angefangen.«
Ich war so dankbar, dass ich hätte weinen können. Stattdessen ging ich in mein Zimmer, denn ich sehnte mich nach Ruhe und Frieden an einem geschützten Ort.
In meinem Schrank hingen nur noch einige Anziehsachen für den Winter, alles andere war in Dads alter Ledertruhe verstaut worden. Als ich einen raschen Blick in meine Kulturtasche warf, fand ich dort mein Make-up, Haarspangen, Shampoo und den ganzen Rest, den meine Eltern fürsorglich eingepackt hatten.
Die meisten meiner Bücher würden hierbleiben; ich besaß zu viele, um sie auf den wenigen Regalen in unserem Schlafraum unterzubringen. Aber meine Lieblingsbücher lagen schon bereit, um von mir in eine Kiste gelegt zu werden: Jane Eyre, Sturmhöhe und meine Astronomiebücher. Das Bett war gemacht, und auf meinem Kopfkissen lag ein kleiner Stapel von Dingen, die ich an meine Wände hängen konnte, wie zum Beispiel Postkarten, die mir Freunde im Laufe der Jahre geschickt hatten, und einige Sternenkarten, die ich in unserem alten Haus an die Wände gepinnt hatte. Aber in diesem Zimmer hing noch etwas anderes, als wollten meine Eltern mir zeigen, dass dies auch noch immer mein Zuhause war: ein kleiner, gerahmter Druck von Klimts Der Kuss . Ich hatte dieses Poster vor Monaten in einem Laden bewundert, und offenbar hatten sie es gekauft, um mich an meinem ersten Tag in der neuen Schule damit zu überraschen.
Zuerst war ich einfach nur dankbar für das Geschenk. Aber dann konnte ich nicht aufhören, das Bild anzustarren, und konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass ich es vorher noch nie richtig gesehen hatte.
Der Kuss war eines meiner Lieblingsbilder. Seit den Tagen, an denen meine Mutter mir zum ersten Mal ihre Kunstbücher gezeigt hatte, hatte ich Klimt immer geliebt. Ich bewunderte es, wie er alle Flächen und Linien vergoldet hatte, und mochte die Schönheit der bleichen Gesichter, die aus den kaleidoskopartigen Bildern, die er geschaffen hatte, verstohlen herausblickten. Nun aber sah ich das Bild mit anderen Augen. Ich hatte nie wirklich darauf geachtet, wie sich das Paar zueinanderneigte - der Mann beugte sich von oben hinunter, als würde er von einer unerklärlichen Macht zu ihr gezogen werden. Der Kopf der Frau war zurückgebogen, als zerrte die Schwerkraft auch an ihm. Die Lippen der Frau waren dunkel im
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