Evernight Bd.1 Evernight
würde Lucas nach mir suchen. Er wusste, wie verängstigt ich war, und fühlte sich bestimmt schuldig, weil er diese Sorge noch verstärkt hatte. Er würde doch wohl Hallo sagen kommen.
Tat er aber nicht. Schließlich musste ich einsehen, dass ich ihn wohl verpasst hatte, was bedeutete, dass mir nichts anderes übrig blieb, als auf mein Zimmer zu gehen und meine Mitbewohnerin kennenzulernen.
Langsam machte ich mich auf den Weg die Steintreppe hinauf, wobei meine neuen Schuhe mit ihren harten Sohlen laut klackerten. Am liebsten wäre ich immer weiter emporgestiegen, geradewegs bis in die Lehrerwohnung meiner Eltern. Aber wenn ich das täte, dann konnte ich sicher sein, dass sie mich sofort wieder hinunterschicken würden. Nach dem Abendessen würde noch genügend Zeit sein, meine Sachen zusammenzupacken und wirklich bei ihnen auszuziehen. Im Augenblick war es das Wichtigste, sich »einzugewöhnen«.
Ich versuchte es von der positiven Seite zu sehen. Vielleicht war meine Zimmergenossin genauso genervt von der Schule wie ich. Mir fiel wieder das Mädchen mit den superkurzen Haaren ein, und ich hoffte, dass ich mir mit ihr mein Zimmer teilen würde. Wenn ich mit einer anderen Außenseiterin zusammenlebte, würde das die Dinge möglicherweise leichter machen. Es würde eine Qual werden, mit einer Fremden zusammenzuwohnen und ununterbrochen jemanden um sich zu haben, den man gar nicht kannte - sogar beim Schlafen -, aber ich hoffte, dass sich dieses Gefühl irgendwann legen würde. Auf eine Freundin wagte ich nicht zu hoffen.
Patrice Deveraux hatte auf dem Formular gestanden. Ich versuchte, diesen Namen mit dem Mädchen zu verknüpfen, das ich gesehen hatte, aber er passte nicht recht. Trotzdem: Alles war möglich.
Ich öffnete die Tür, und mit einem Schlag wurde mir klar, dass der Name meiner Zimmerkameradin wunder bar zu ihr passte. Sie war keineswegs eine andere Außenseiterin. Stattdessen war sie so etwas wie die Verkörperung des Evernight-Typs.
Patrice’ Haut hatte die Farbe eines Flusses bei Sonnenaufgang, nämlich das kühlste, weichste Braun, und ihr Haar war zu einem lockeren Knoten zurückgebunden, sodass ihre Perlenohrringe und ihr schlanker Hals unübersehbar waren. Sie saß am Garderobentisch und war damit beschäftigt, Nagellackfläschchen aufzureihen, während sie mir entgegensah.
»Dann bist du also Bianca«, sagte sie. Kein Händeschütteln, keine Umarmungen - nur das Klappern der Flakons auf dem Tisch: hellrosa, korallenrot, melone, weiß. »Du bist nicht gerade das, was ich erwartet habe.«
Besten Dank auch . »Du auch nicht.«
Patrice legte den Kopf schief und musterte mich, und ich fragte mich, ob wir einander bereits hassten. Dann hob sie eine perfekt manikürte Hand und begann, an ihr ihre Bedingungen abzuzählen. »Du kannst mein Parfüm benutzen, aber nicht meinen Schmuck oder meine Klamotten ausleihen.« Sie sagte nichts über das Ausborgen meiner Sachen, aber es war auch so offensichtlich, dass sie niemals auf eine solche Idee kommen würde. »Ich habe vor, meistens in der Bibliothek zu lernen, aber wenn du hier arbeiten möchtest, dann sag mir Bescheid, und ich werde mich woanders mit meinen Freunden treffen. Hilf mir bei den Fächern, in denen du gut bist, und ich werde das Gleiche für dich tun. Ich bin mir sicher, wir können eine Menge voneinander lernen. Klingt das annehmbar?«
»Durchaus.«
»In Ordnung. Wir werden schon miteinander auskommen.«
Ich glaube, wenn sie mir von Anfang an mit falscher Freundlichkeit entgegengekommen wäre, hätte mich das mehr gestört. So wie die Dinge lagen, konnte ich es Patrice abnehmen, dass sie sozusagen eine geschäftliche Beziehung mit mir im Sinn hatte. »Ich bin froh, dass du das denkst«, sagte ich. »Ich weiß, dass wir… unterschiedlich sind.«
Sie widersprach nicht. »Deine Eltern sind hier beide Lehrer, oder?«
»Ja. Gerüchte verbreiten sich schnell.«
»Dir wird es hier gut gehen. Sie werden sich um dich kümmern.«
Ich versuchte sie anzulächeln und hoffte, dass sie recht behalten würde. »Warst du schon mal hier in Evernight?«
»Nein, es ist das erste Mal.« Patrice sagte das, als ob die Tatsache, dass sich ihre gesamten Lebensumstände mit einem Schlag änderten, ihr nicht mehr ausmachte, als beispielsweise in ein neues Paar Designerschuhe zu schlüpfen. »Es ist wunderbar hier, findest du nicht?«
Ich behielt meine Meinung über die Architektur für mich. »Du hast gesagt, du hättest hier bereits Freunde.«
»Ja,
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