Evernight Bd.1 Evernight
beide die Regeln«, murmelte Erich und spähte von einer Seite zur anderen. »Du kannst mich nicht melden, ohne dass wir beide ein Problem haben.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und stand nun nahe genug, um ihn berühren zu können. Sein knochiges Gesicht und seine scharf geschnittene Nase ließen ihn mehr denn je wie eine Ratte aussehen.
»Dann werde ich eben dafür sorgen, dass wir beide ein Problem haben.«
»Ist ja auch eine riesige Sache! Die Ausgangssperre missachten: Wen kümmert das schon? Jeder macht das. Das interessiert sie überhaupt nicht.«
»Du bist nicht unterwegs, um dir etwas zu essen zu suchen. Du belästigst Raquel.«
Erich warf mir den angewidertsten Blick zu, den ich je auf einem Gesicht gesehen hatte, als wäre ich etwas, über das er auf einem Bürgersteig einen großen Schritt hinwegmachen würde. »Das kannst du nicht beweisen.«
In mir flackerte Zorn auf, der meine Angst zum Schweigen brachte. All meine Muskeln spannten sich an, und meine Eckzähne begannen zu wachsen, bis sie lange Reißzähne geworden waren. Wie eine Vampirin zu reagieren bedeutete, sich nicht einschüchtern zu lassen. »Oh, wirklich nicht?«
Dann packte ich seine Hand und biss mit aller Kraft hinein.
Vampirblut schmeckte kein bisschen wie menschliches Blut oder das von sonst irgendeinem lebendigen Wesen. Es machte nicht satt, ja eigentlich war es überhaupt keine Nahrung. Es diente nur zur Information. Der Geschmack von Vampirblut verriet einem, wie sich der Vampir in ebenjenem Augenblick fühlte. Man konnte es dann selbst ein bisschen nachempfinden, und Bilder flackerten vor dem geistigen Auge auf, die einem zeigten, was den anderen Vampir Sekunden zuvor beschäftigt hatte. Meine Eltern hatten mir das beigebracht und mich sogar einige Male an ihnen ausprobieren lassen, aber als ich sie ein einziges Mal gefragt hatte, ob sie sich auch gegenseitig bissen, wurden sie wirklich verlegen und fragten, ob ich nicht Hausaufgaben zu erledigen hätte.
Als ich das Blut meiner Eltern gekostet hatte, hatte ich nichts als Liebe und Zufriedenheit geschmeckt, und lediglich Bilder von mir selber als Kind gesehen. Ich sah hübscher aus als in Wahrheit und war begierig darauf, die Welt begreifen zu lernen. Erichs Blut war anders. Es war schrecklich.
Er schmeckte nach Ablehnung, Zorn und dem tief verwurzelten Willen, ein menschliches Leben auszulöschen. Die Flüssigkeit war so heiß, dass sie brannte, und sie war so voller Zorn, dass es mir den Magen umdrehte, weil ich dieses Aroma so verabscheute und weil ich Erich selbst verabscheute. Ein Bild tauchte in meinem Geist auf, das mit jeder Sekunde größer und leuchtender wurde wie ein Feuer, das rasch außer Kontrolle geriet: Raquel, so wie Erich sie haben wollte, nämlich ausgestreckt auf ihrem Bett, mit aufgerissener Kehle, um den letzten Atemzug ringend.
»Au!« Mit einem Ruck riss Erich seine Hand los. »Was zur Hölle machst du da?«
»Du willst ihr etwas antun.« Es fiel mir schwer, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Inzwischen zitterte ich und wäre bei den gewalttätigen Bildern, die ich gesehen hatte, beinahe durchgedreht. »Du willst sie töten.«
» Wollen ist nicht das Gleiche wie tun «, gab er zurück. »Glaubst du, ich bin der Einzige hier, der hin und wieder seine Zähne in frisches Fleisch graben will? Dafür kann man mich nicht bestrafen.«
»Verschwinde von diesem Dach. Hau ab, und komm nie, nie mehr hierher zurück. Wenn doch, dann werde ich Mrs. Bethany davon erzählen. Sie wird mir glauben, und schon bist du weg von Evernight.«
»Gut, tu das. Ich habe diesen Ort sowieso satt. Aber ich verdiene ein gutes Essen, bevor ich gehe, findest du nicht?« Erich lachte mich an, und einen entsetzlichen Augenblick lang glaubte ich, er wolle nun doch noch gegen mich kämpfen. Stattdessen sprang er vom Dach, ohne sich die Mühe zu machen, auf dem Weg nach unten nach einem Ast zu greifen.
Einen derart übelkeiterregenden Zorn hatte ich noch nie zuvor verspürt. Und ich hoffte, das würde ich auch in Zukunft nicht noch einmal. Trotz all der Engstirnigkeit und Dunkelheit von Evernight hatte ich nun das Gefühl, zum ersten Mal das wahrhaft Böse gesehen zu haben.
Glaubst du an das Böse?, hatte Raquel mich gefragt. Ich hatte mit Ja geantwortet, aber ich hatte bislang nicht gewusst, wie es aussah. Zitternd atmete ich einige Male ein und aus und versuchte, mich wieder zu sammeln. Ich würde lange und angestrengt über das nachdenken müssen, was gerade geschehen
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