Evernight Bd.1 Evernight
schon vorher an Ängsten mit sich herumgeschleppt hatte - durch Erichs Belästigung hatten sie sich aufgebläht. Dass sie nachts nicht schlief, verrieten mir die dunklen Ringe unter ihren Augen, und eines Tages kam sie mit einem frischen Haarschnitt in die Bibliothek, den sie offensichtlich selbst erledigt hatte, und zwar nicht besonders sorgfältig.
In dem Versuch, taktvoll zu sein, schob ich meine Bücher zur Seite, sodass sie sich neben mich an den Tisch setzen konnte, und begann: »Weißt du, in meiner Heimatstadt habe ich immer meinen Freundinnen die Haare geschnitten …«
»Ich weiß, dass ich um die Haare rum gerupft aussehe.« Raquel würdigte mich keines Blickes, als sie ihren Rucksack auf den Boden fallen ließ. »Und, nein, ich will nicht, dass jemand anderer das für mich wieder in Ordnung bringt. Ich hoffe, es sieht schrecklich aus. Dann vergeht ihm vielleicht die Lust, mich anzusehen.«
»Wem? Erich?«, fragte Lucas, der sofort angespannt war.
Raquel ließ sich auf den Stuhl sinken. »Was glaubst du denn, wem sonst? Ja, Erich.«
Bis zu diesem Moment war mir nicht klar gewesen, dass ich nicht die Einzige war, die Erich augenblicklich im Visier hatte. Ich hatte ihn mitten bei der Jagd gestört; vielleicht hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Raquels Blut zu trinken, und vielleicht sogar, sie zu verletzen. Die meisten Vampire töteten niemals, hatten Mum und Dad gesagt. War Erich eine Ausnahme von dieser Regel?
Bestimmt nicht, dachte ich. Mrs. Bethany würde so jemanden doch nicht in Evernight behalten.
Als Lucas rasch das Thema wechselte und Raquel nach einem Übungsblatt aus dem Biologiekurs meines Vaters fragte, schaute ich ihn an und spürte sofort einen sehnsuchtsvollen Stich - einen besitzergreifenden Stich -, der mich immer in seiner Gegenwart heimsuchte. Mein , dachte ich. Ich will, dass du für immer mir gehörst .
Ich hatte immer geglaubt, dass so etwas nur sentimentales Gerede wäre, aber vielleicht steckte doch mehr dahinter. Vielleicht war dieses Bedürfnis, jemanden für sich zu beanspruchen, ein Teil des Vampirdaseins und deshalb stärker als jedes menschliche Begehren.
Sicherlich interessierte sich Erich nicht so für Raquel wie ich für Lucas, aber wenn er ihr gegenüber nur ein Zehntel so besitzergreifend wie ich in Bezug auf Lucas war …
… dann war nicht daran zu denken, dass Erich schon mit Raquel fertig war.
An diesem Abend traf ich Raquel wieder im Badezimmer. Sie schüttete sich gerade vier oder fünf Schlaftabletten, die ich ihr empfohlen hatte, auf die Handfläche. »Pass bloß auf«, sagte ich. »Du willst doch nicht zu viele nehmen.«
Raquels Gesichtsausdruck war trostlos. »Und nie mehr aufwachen? Klingt gar nicht so schlecht in meinen Ohren.« Sie seufzte. »Vertrau mir, Bianca, das ist noch nicht mal annähernd genug, um einen Menschen zu töten.«
»Aber mehr, als du brauchst, um zu schlafen.«
»Nicht bei diesen Geräuschen auf dem Dach.« Sie stopfte sich die Tabletten in den Mund, dann beugte sie sich vor, um einige Schlucke direkt aus dem Kaltwasserhahn über dem Waschbecken zu trinken. Nachdem sie sich mit dem Handrücken das Gesicht abgewischt hatte, fuhr Raquel fort: »Ich höre sie noch immer. Ich meine, inzwischen sind sie lauter geworden, und sie sind ständig da. Ich bilde sie mir nicht ein.«
Mir gefiel der Klang ihrer Stimme gar nicht. »Ich glaube dir.«
Das war nur so eine Redensart, aber Raquel riss die Augen auf. »Wirklich?« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Wirklich? Und das sagst du nicht nur so?«
»Wirklich, ich glaube dir.«
Zu meiner Bestürzung füllten sich Raquels Augen mit Tränen. Sie blinzelte sie fort, aber ich wusste, was ich gesehen hatte. »Mir hat noch nie jemand geglaubt.«
Ich trat einen Schritt näher. »Was hätten sie dir denn glauben sollen?«
Sie schüttelte den Kopf und weigerte sich zu antworten. Aber als sie an mir vorbei in ihr eigenes Zimmer zurückgehen wollte, berührte sie meine Schulter, nur einen flüchtigen Moment lang. Für Raquel war das so viel wie eine überschwängliche Umarmung.
Ich hatte keine Ahnung, was ihr in der Vergangenheit Sorgen gemacht hatte, aber ich wusste, dass Erich ihr Angst gemacht hatte. Wahrscheinlich war es gar nicht mehr seine Absicht, ihr was zu tun, aber er war die Art Typ, dem es Spaß machen würde, sie zu erschrecken.
Dagegen konnte ich immerhin etwas unternehmen.
Später in der gleichen Nacht, lange nach der Ausgangssperre, stand ich auf und
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