Evernight Bd.1 Evernight
schlecht, dass du dich reingeschlichen hast. Ihr habt euch wohl gerade verabschiedet, was?«
»Hmm.« Was sollte ich auch sonst sagen?
»Sei nicht allzu traurig, okay?« Vic klopfte mir auf die Schulter. »Manche Jungs wissen, was man zu Mädchen sagen muss, wenn sie traurig sind, aber hey, ich gehöre nicht dazu.«
»Mir geht es gut, ehrlich.« Ich sah Vic eindringlich an. Er war die einzige Person an der ganzen Schule, der Lucas vielleicht etwas von seinem Verdacht erzählt haben mochte. »Kam dir Lucas… in letzter Zeit seltsam vor?«
»Er hat meine Einladung nach Jamaika ausgeschlagen.« Vic zuckte mit den Schultern. »Angeblich, weil er mit alten Familienfreunden feiern will, aber es klang nicht so, als ob sie etwas Besonderes vorhätten. Würdest du Weihnachten nicht auch lieber am Strand herumliegen, anstatt mit alten Kerlen abzuhängen, die deine Mutter kennen?«
Das war nicht, was ich gemeint hatte. Aber wenn das das seltsamste Verhalten war, das Vic aufgefallen war, dann hatte Lucas seine Gedanken über Vampire vermutlich für sich behalten. Vic war nicht der Typ, der so gut hätte bluffen können. Es gab mir einen Stich, als mir klar wurde, dass Vic ehrlicher als ich war.
»Chips?« Vic bot mir seine halb leere Tüte mit den orangefarbenen, gewürzten Chips an. Ich schüttelte den Kopf und versuchte angestrengt, so zu tun, als wenn mir nicht speiübel wäre. »Das wird ihm bald schon leidtun. Warte mal ab. Meine Familie und ich - wir werden die beste Zeit unseres Lebens haben. Und was hat er so vor? Sitzt irgendwo rum und muss auf seine Tischmanieren achten.« Vic stopfte sich eine Hand voll Chips in den Mund und prophezeite: »Das wird ein langer Monat werden.«
»Ja«, murmelte ich, »das glaube ich auch.«
Ich schätzte, die meisten Leute würden meinen, dass Vampire nicht viel für Weihnachten übrighätten. Ganz falsch gedacht.
Der religiöse Teil war unangenehm. Kreuze bewirkten zwar nicht, dass wir in Flammen aufgingen oder zu Rauch wurden wie in Horrorfilmen, aber es fühlte sich falsch für uns an, in einer Kapelle oder Kirche zu sein. Es war eine Art Schauer, der einem über den Rücken lief, wie wenn man beobachtet wurde, ohne zu wissen, von wem. Also gab es keine Mitternachtsmesse, keine Krippe, überhaupt nichts in der Art. Trotzdem bekamen Vampire genauso gerne Geschenke wie jeder sonst. Wenn man dann noch die nicht unbeträchtliche Zeit dazunahm, die man nicht in der Schule verbrachte, hatte man Ferien, die auch die Untoten genießen konnten.
Die meisten Untoten jedenfalls. Ich war an diesem Weihnachten niedergeschlagener als je zuvor in meinem Leben.
Die angespannte Atmosphäre löste sich ein bisschen, als die anderen Schüler verschwunden waren, sodass nur noch die Vampire übrig blieben. Die Leute hörten auf, sich so hochmütig zu benehmen, denn es war niemand mehr da, den sie piesacken oder beeindrucken konnten. Einige Vampire reisten ebenfalls ab, unter anderem Patrice, die darauf beharrte, dass man um diese Jahreszeit nicht aufs Skilaufen in der Schweiz verzichten könne. Die anderen von uns, Lehrer wie Schüler, blieben in Evernight, denn das war unser Zuhause - oder kam dem zumindest am nächsten.
»Wir sind die Ausnahme, Bianca.« Meine Mutter hängte Stechpalmengirlanden über unsere Eingangstür, während ich unter ihr stand und die Leiter festhielt. Sie und Dad spürten meine trübselige Stimmung und unternahmen besonders viele Anstrengungen, mich in Ferienlaune zu versetzen. »Wir sind die einzige Familie in Evernight, ist dir das schon mal aufgefallen? Keiner der anderen hier hat mehr eine Familie, seit den Zeiten, in denen sie… nun ja, lebendig waren.«
»Mir kommt es nur so komisch vor, dass sie kein Zuhause haben, wo sie hinfahren können.« Ich reichte ihr eine Reißzwecke, damit sie die Kette befestigen konnte. »Wir hatten ein Haus. Wie können denn die anderen ohne Häuser auskommen?«
»Wir hatten sechzehn Jahre lang ein Haus«, berichtigte mich Dad vom Sofa aus, wo er seine alten Schallplatten durchsah auf der Suche nach Ella Wishes You a Swinging Christmas . »Das ist dein ganzes Leben, aber deiner Mutter und mir kommt es eher…«
»… wie ein Wimpernschlag vor.« Mum seufzte.
Dad lächelte sie an, und etwas an diesem Lächeln erinnerte mich daran, dass er ungefähr sechshundert Jahre älter als sie war, und dass ihm selbst die Jahrhunderte, die sie zusammen verbracht hatten, wie ein Wimpernschlag vorkommen mussten. »So etwas wie
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